18.06.2023, 19:48
Die konstruierte Wirklichkeit von SPIEGEL & Co.
18 Juni 2023
Thomas Fischer hat es getan. Er hat eine Medienkritik geschrieben, die es in sich hat. Und zwar ausgerechnet im SPIEGEL. Zwar unter der Rubrik "Kultur", was einigermaßen erstaunt, aber immerhin. Darauf schrieb ein SPIEGEL-Autor eine Replik. Und zwar eine, die es nicht in sich hatte. Sie hatte eigentlich überhaupt nichts zu bieten.
Schwierigkeiten beim "Sagen, was ist" – nicht erst seit 2018: Titelbild des SPIEGEL vom 22. Dezember 2018 - Quelle: © Winfried Rothermel/imago stock&people
Von Tom J. Wellbrock
Thomas Fischer kennt keine Gnade, wenn er den berühmten Satz von Hanns Joachim Friedrichs zitiert:
"Einen guten Journalisten erkennt man daran, … dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache."
Denn Fischer schiebt hinterher:
"In der Ukraine- und Russlandberichterstattung klingt der oben zitierte Friedrichs-Satz endgültig wie ein Witz. Vielmehr scheint hier eine Identifikation mit der richtigen Seite sowie ihre ausdrückliche Versicherung von den Spitzen bis zu den Gute-Laune-Moderatoren und Lokalredakteuren ein journalistisches Bedürfnis zu sein. Das mag auch deshalb erstaunlich sein, weil es, wie zum Verdruss des Führungspersonals gelegentlich bekannt wird, nicht der empirischen Stimmung in der Gesamtbevölkerung entspricht. Es ist aber nicht erstaunlich, wenn man die kryptische Selbstdefinition der Branche als Lehranstalt für sittliche Reife bedenkt."
Und damit hat Fischer noch lange nicht genug, denn er schreibt:
"Ein Phänomen sei noch erwähnt, welches die Publizistik zum Ukrainekrieg prägt: Mir fällt seit Längerem auf, dass die hiesige Expertenpublizistik zum Ukrainekrieg in erstaunlichem Umfang von Autoren bestritten wird, die entweder als Ukrainer vorgestellt werden oder als Russen, die eigentlich Ukrainer des Herzens sind, oder als Reporter, die 'vor Ort' sowie mit ganzer Kraft Ukrainer des Herzens sind.
Nun ist persönliches Anliegen eine inspirierende und vielleicht auch verpflichtende Angelegenheit. Trotzdem, so meine ich, sollte für professionelle Journalisten doch eher der professionelle Journalismus die bestimmende Herzensangelegenheit sein als die emotional-demonstrative Verschmelzung mit einem Anliegen – in Kriegsfragen mit einer Kriegspartei. Das ist, wenn man hundert US-amerikanische Filme über beseelte Journalisten im Kampf gegen das jeweils angeblich Böse gesehen hat, eine vielleicht überraschende These. Sie ist aber gleichwohl wahr.
Ein ganz erheblicher Teil der von Exil-Ukrainern verfassten Analysetexte besteht aus Wutbekenntnissen ohne größeren Wert. Ich kann mich nicht erinnern, dass den Stellungnahmen irgendeiner anderen internationalen Kriegs- und Konfliktpartei in den vergangenen Jahrzehnten in der deutschen Publizistik ein derart dominierender Platz ohne jegliche Gegenrede oder Kritik eingeräumt worden wäre."
Das soll es an dieser Stelle vom gewesen sein, ich kann ihn nur vollen Herzens in Gänze empfehlen.
Ein SPIEGEL-Redakteur außer Rand und Band
Vorbemerkung: Auch der SPIEGEL-Text über Christoph Reuter ist am Ende des Textes zu finden.
Die Erwiderung zum Artikel von Thomas Fischer kam von einem Redakteur namens Christoph Reuter, der sich nicht die Mühe macht, auf den Text von Fischer zu verlinken, das überlässt er dem geneigten Leser. Gleich zu Beginn stellt Reuter klar:
"Die deutsche Berichterstattung zu Russlands Überfall auf die Ukraine sei beherrscht von Russenhassern, behauptet SPIEGEL-Kolumnist Thomas Fischer. Sein Gefühl hat mit der Wirklichkeit wenig zu tun."
Offenbar ist die Wirklichkeit eine Herzensangelegenheit von Herrn Reuter, was jedoch die journalistische Professionalität ein ganz klein wenig überlagert. Es folgt der erste Schuss aus der Hüfte:
"Als Kolumnist des SPIEGEL wäre es naheliegend, bei einer Generalabrechnung mit der Ukraine-Berichterstattung etwas davon zur Kenntnis genommen zu haben, was im SPIEGEL dazu so steht. Angesichts von mehreren Tausend Nachrichten, Analysen, Reportagen, Interviews und Meinungsbeiträgen zum Krieg ist genügend Anschauungsmaterial vorhanden. Leider kommt da nichts, die gesamte Kolumne kommt bis auf drei knapp erwähnte und nicht weiter verfolgte Beiträge gänzlich ohne Belege für die gefühlte Russenhasserei deutscher Medien aus. Mit den Argumenten der Texte setzt Fischer sich nicht auseinander, er karikiert sie nur im Vorübergehen."
Ja, da ist jemand überhaupt nicht amüsiert. Doch Reuter selbst hat nicht nur den Fischer-Text nicht verlinkt, er bietet auch keinerlei konkrete Texte des SPIEGEL an, die seine Behauptung, das ehemalige Nachrichtenmagazin berichte ausgewogen, belegen. Wobei er das Wort "ausgewogen" gar nicht benutzt, man muss es zwischen seinen Zeilen herausfummeln.
Ungefähr in der Mitte des Textes erleben wir die persönliche Bankrotterklärung des Christoph Reuter, wenn er schreibt:
"Das Lamento ist nicht neu, dass deutsche Medien praktisch alle gleich und regierungsfreundlich berichten würden. Nur macht die Wiederholung die Behauptungen nicht wahrhaftiger. Eine Vergleichsanalyse des Mainzer Kommunikationswissenschaftlers Marcus Maurer, der gemeinsam mit Pablo Jost und Jörg Haßler knapp 4300 Beiträge untersuchte, kam zu ganz anderen Schlüssen, was Einheitlichkeit und Bewertung einzelner Kabinettsmitglieder anging.
Bis auf eine Ausnahme: 'In einigen Fällen haben die von uns untersuchten Medien tatsächlich sehr einheitlich über den Krieg berichtet. Das betrifft insbesondere die Zuschreibung der Kriegsverantwortung an Russland und die Bewertung der beiden Kriegsparteien. Dieses Berichterstattungsmuster ist aber wenig verwunderlich, weil Russland – bei allem möglichen Verständnis für eine dort vielleicht als bedrohlich wahrgenommene Ost-Erweiterung der Nato – einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt, der wenig Spielraum für andere Bewertungen lässt.'"
Es folgt das Unvermeidbare eines sich nicht bekennenden, aber offen zur Schau getragenen Wirklichkeits-Konstrukteurs:
"Wie mit dieser Tatsache aber nach vorn gerichtet umzugehen sei, ob und welche Waffen geliefert werden sollten, wann und wie verhandelt werden könnte, dazu gibt es in Deutschland durchaus eine breite Debatte. Aber wer wen angegriffen hat, wer Täter ist und wer Opfer – das lässt sich nun mal eindeutig feststellen."
Eine breite Debatte? Schockschwerenot, die muss ich glatt verpasst haben. Und Reuter setzt unter der Zwischenüberschrift 'Wenig Spielraum für andere Bewertungen' noch einen drauf:
"Das mag, wer mehr Abwechslung in den von ihm 'besuchten Rundfunk- und Fernsehprogrammen' sucht, still bedauern. Aber wer darüber einen Verrat an journalistischer Ethik herbeifabuliert, sollte sich vorher an den elementaren Grundsätzen dieser Ethik orientieren: und lesen, recherchieren, prüfen, belegen, was er anschließend beurteilen möchte.
Dann könnte man zum Beispiel auch feststellen, dass die deutsche Presse, die laut Fischer angeblich so uniform ist, durchaus verschiedensten Meinungen Raum gibt zur Frage, wie Deutschland mit diesem Krieg umgehen soll – auch der SPIEGEL. Und dass viele Medien, insbesondere der SPIEGEL, mit zahlreichen eigenen Experten aus der Ukraine, aber auch aus Russland berichten. Zu verstehen, was vor Ort passiert und gedacht wird, mag nicht die einzige Voraussetzung sein, um über ein Thema zu schreiben. Es hilft allerdings ungemein."
Damit beende ich an dieser Stelle die Zitate aus dem Reuter-Artikel.
Mit der Wirklichkeit wenig zu tun
Wir kennen das: Konfrontiert mit der Wirklichkeit konstruieren die Mainstream-Journalisten einfach eine neue. Und die geht in diesem Fall so: Wir berichten ausgewogen, wir lassen jede Menge Meinungen zu Wort kommen, wir denken über alle möglichen Optionen nach und wir reisen dorthin, wo es wehtut.
Das ist natürlich ein springender Punkt, mit dem Reuter punkten kann. Er war seit dem Februar 2022 mehrmals in der Ukraine, muss also wissen, wie es dort ist. Das waren allerdings die ZDF-Berichterstatterin Katrin Eigendorf und BILD-Reporter Paul Ronzheimer auch. Das heißt aber nicht, dass sie dorthin gehen, wo es wehtut, sondern in erster Linie, dass ihre Interpretation von Journalismus wehtut. Was der Mainstream gern als "Kriegsberichterstattung" vorstellt, sollte besser "Kriegshetzeberichterstattung" genannt werden.
Zudem: Unser SPIEGEL-Schreiberling war also seit Februar 2022 mehrmals in der Ukraine? Was ist mit der Zeit davor, als Kiew den Osten der Ukraine über Jahre mit tödlichen Angriffen traumatisiert hat? Wo war Herr Reuter da? Was hat er gemacht?
Schuldig bleibt er auch, seine Vielfaltsbehauptung zu belegen. Man möge mir die ausgewogenen Artikel des SPIEGEL zukommen lassen, in denen differenziert über den aktuellen Ukraine-Krieg berichtet wird. Meine Recherche endete erfolglos mit blutigen Fingern.
Widmen wir uns noch einmal einer der Kernaussagen von Christoph Reuter:
"Aber wer wen angegriffen hat, wer Täter ist und wer Opfer – das lässt sich nun mal eindeutig feststellen."
Nun, die Frage lautet jetzt: Ist das Dummheit oder Vorsatz? Denn dieser Satz impliziert etwas, mit dem wir es inzwischen tagtäglich zu tun haben. Er impliziert, dass die Tat (also der Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022) isoliert betrachtet werden kann. Er impliziert zudem etwas, das sich in der deutschen Medienlandschaft ausgebreitet hat wie ein mediales Virus, dass nämlich die Vorgeschichte dieses Krieges keine Rolle spielt, dass die Tatsache, dass dieser Krieg hätte verhindert werden können, völlig unerheblich ist.
Doch der wesentliche Punkt ist natürlich ein anderer: Das Weglassen der Vorgeschichte nimmt den Westen komplett aus der Pflicht, er findet nicht statt. Dabei wurde die Schwächung Russlands durch die USA bzw. die NATO schon seit Jahrzehnten mehr oder weniger offen von westlicher Seite kommuniziert. Der SPIEGEL berichtet weder darüber, wie der Krieg beendet werden kann, noch hat er sich seit Februar 2022 dazu geäußert, wie er hätte verhindert werden können.
Ein wichtiger Artikel von Christoph Reuter
Man könnte den Text von Reuter natürlich unter der Rubrik "Billige Propaganda" abhaken und weiter seiner Wege gehen. Aber dieser Text ist höchst aussagekräftig, vergleichbar mit den Reaktionen auf das Buch "Die vierte Gewalt" von Harald Welzer und Richard David Precht. Die Reaktionen des Mainstreams auf dieses Buch waren vor allem eines: beratungsresistent.
Der Artikel von Reuter ist es gleichfalls. Er denkt sich eine Ausgewogenheit aus, an die er – ausgestattet mit einem Mindestmaß an Verstand – eigentlich nicht glauben könnte. Er konstruiert Stimmen, die unterschiedliche Perspektiven abbilden, obwohl diese Stimmen faktisch entweder nicht vorkommen oder in medialen Hexenverbrennungen auf dem Marktplatz in Flammen aufgehen.
Man muss davon ausgehen, dass Reuter von der Unwahrheit seiner Worte und der eigenwillig konstruierten Wirklichkeit weiß, dass ihm klar ist, dass seine Schilderungen weit, sehr weit vom tatsächlichen Geschehen entfernt sind, Annalena Baerbock würde womöglich sogar von Hunderttausenden Kilometern sprechen, also wirklich, richtig weit weg von der Realität.
Aber es gibt noch eine zweite Möglichkeit, und diese in Betracht zu ziehen ist womöglich noch verstörender als die eben geschilderte Option 1. Es ist nämlich auch denkbar, dass Christoph Reuter sich so sehr in seine zusammengezimmerte Wirklichkeit hineingedacht hat, dass er tatsächlich glaubt, was er schreibt, dass er für sein Empfinden und in seiner Selbstwahrnehmung wirklich ein Ritter für die Meinungsvielfalt, die freie Presse und den Frieden auf Erden ist.
Unterm Strich ist das jedoch eigentlich egal, denn ob nun "Tor 1" oder "Tor 2", unabhängiger Journalismus mit einem kritischen Anspruch an seine eigene Berichterstattung ist Geschichte. Allerdings nicht erst seit Februar 2022, sondern schon deutlich länger.
Ein Weg wieder heraus aus dieser verantwortungslosen und den Krieg befördernden Haltung ist nicht in Sicht. Und das hat mit der Wirklichkeit eine ganze Menge zu tun.
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Thomas Fischer (Text im SPIEGEL), Jahrgang 1953, ist Rechtswissenschaftler und war von 2000 bis 2017 Richter im 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs, ab 2013 als Vorsitzender. Er ist Verfasser eines jährlich überarbeiteten Standardkommentars zum Strafgesetzbuch und zahlreicher weiterer Fachbücher. Seit Anfang April 2021 ist er als Rechtsanwalt für die Münchner Kanzlei Gauweiler & Sauter tätig.
SPIEGEL-Reporter Christoph Reuter, Jahrgang 1968, war seit Februar 2022 mehrmals in der Ukraine, zuletzt vier Wochen im Januar/Februar in der umkämpften Stadt Bachmut im Donbass. Zuvor hat er monatelang aus Afghanistan kurz vor und nach der Machtübernahme der Taliban berichtet. Als Krisenreporter hat er im vergangenen Jahrzehnt hauptsächlich über den Krieg in Syrien geschrieben.
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Tom J. Wellbrock ist Journalist, Sprecher, Texter, Podcaster, Moderator und Mitherausgeber des Blogs .
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