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Das Rätsel um den Magdeburger Attentäter
21 Dez. 2024
Dieses Ereignis passt erst einmal in kein Schema. Und das sollte motivieren, Fragen nach den Auslösern zu stellen, statt eilig nach dem passenden Etikett zu suchen. Denn das war nur eine kleine Eruption aus einer großen Magmakammer.
Der Weihnachtsmarkt in Magdeburg (21.12.2024) - Quelle: © Christoph Soeder/dpa
Von Dagmar Henn
Gerade wird eifrig daran gearbeitet, aus dem Terrorangriff auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt eine politisch nützliche Geschichte zu machen. Etwa, der Täter sei AfD-Anhänger gewesen. Aber in Wirklichkeit passt auf den Mann, der gestern Nacht festgenommen wurde, keines der vorhandenen Etiketten. Und das ist in sich bereits ein Teil der Antwort auf die Frage, wie es dazu kommen konnte.
Ein fünzigjähriger Psychiater saudi-arabischer Abstammung, der in der forensischen Psychiatrie tätig war, Flüchtlingsaktivist, vehement antiislamisch, da scheitert die Sortiermaschine der deutschen politischen Debatte. Er definierte sich erst vor wenigen Tagen als "Linker", teilte aber dennoch Aussagen der AfD. Dann war er offenbar auch noch Zionist. Und warum verübt so jemand dann einen Anschlag auf Deutsche, in einer Weise, mit der er sich genau jenen angleicht, die er so erbittert bekämpfen will?
Ja, natürlich kann es sein, dass das eine Art "False Flag" hätte werden sollen, die aus irgendeinem Grund schiefgelaufen ist. Dass das Ziel des Täters darin bestand, einen islamistischen Anschlag zu simulieren, weil das eine Wirkung ausgelöst hätte, die seiner Überzeugung entsprach, und er nur vor Vollendung des Plans aufgehalten wurde. Aber selbst wenn dem so gewesen sein sollte, gibt es immer noch die Seite des persönlichen Motivs.
Denn selbst wenn die Konflikte eines anderen Landes immer im Koffer der Migranten mitreisen – nach achtzehn Jahren in Deutschland, im Fall des Verdächtigen mehr als ein Drittel seines Lebens, ist dieses Gepäck nur dann noch von derart großer Bedeutung, wenn auf der anderen Seite der Mensch selbst eben nicht wirklich angekommen ist.
Selbstverständlich kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass da eine externe Kraft das Angebot genützt hat, das ein derart tief beschädigter Mensch darstellt. Auch dafür gibt es reichlich Beispiele, bei denen Motiv und Absichten der genutzten Person nicht wirklich etwas mit Motiv und Absichten der Nutzer verbindet, weil das Ziel das Chaos an sich ist.
Und man wird nicht umhin können, zu fragen, warum ausgerechnet in einer Psychiatrie keiner der Arbeitskollegen bemerkt hat, dass da etwas gewaltig aus dem Ruder läuft. Wo, wenn nicht dort, ist man versucht zu fragen. Vor allem, wenn die Warnung der saudischen Behörden nicht in der Bürokratie versumpft sein sollte.
Aber dennoch ist es wichtig, nachzuverfolgen, wie es dazu kommen konnte, dass dieser Mann sich ein Auto mietete, um damit in eine Menschenmenge zu fahren. Tatsächlich ist das die wichtigste Frage, wenn es darum geht, wie sich derartige Schrecken verhindern lassen könnten.
Auf seinem Twitter-Account lässt sich ungefähr eine Geschichte , die sich bereits vor einigen Jahren zugetragen hatte. Der Mann hatte sich bemüht, Frauen die Flucht aus Saudi-Arabien zu ermöglichen und in Deutschland Asyl zu bekommen. Dabei hatte er wohl mit einigen Personen zusammengearbeitet, mit denen es zu einem Konflikt gekommen war. Drei Schwestern waren bei einem seiner Verbündeten untergebracht gewesen und hatten von sexueller Belästigung berichtet.
Wie weit das tatsächlich sexuelle Belästigung gewesen war und wie weit eine Kollision unterschiedlicher Kulturen, lässt sich anhand seiner Darstellung nicht klären. Die Frauen jedenfalls hatten sich beklagt, ihr "Gastgeber" sei spärlich bekleidet oder gar nackt durch die Wohnung marschiert, sie hatten den Verdacht geäußert, er habe sich im Nebenzimmer befriedigt, außerdem habe er sie berühren wollen und ihnen Drogen angeboten.
Unser Psychiater jedenfalls hat sich daraufhin bemüht, diesen Vorfall vor Gericht zu bringen, und ist gescheitert. Seine Aussagen deuten auch an, dass es offenbar bei Weitem nicht so einfach war, das für die Frauen gewünschte Asyl zu bekommen, wie er das angenommen hatte.
Was in dieser Zusammensetzung einen einfachen Grund hat – in Deutschland wird sehr klar nach nützlichen und nicht nützlichen Flüchtlingen unterschieden, und die nicht nützlichen, die beispielsweise im Widerspruch zu den geopolitischen Interessen stehen, haben ausgesprochen schlechte Karten, offene Grenzen hin oder her. Wie sich im Fall ukrainischer Antifaschisten gut beobachten ließ. Oder derzeit bei Flüchtlingen aus dem Gazastreifen. Und darüber, wovor man aus Saudi-Arabien flüchten wollen könnte, soll eigentlich auch nicht gesprochen werden.
Aber woher sollte der Mann das wissen? Woher sollte er, 2006 nach Deutschland gekommen, wissen, wie sehr die "Willkommenskultur" des Jahres 2015 geheuchelt war? Es ist eines der Probleme, die Migranten haben, an jedem Ort und zu jeder Zeit, die inneren Widersprüche, die das Verhalten in einem Land prägen, nicht erkennen zu können. Wie viele ältere Deutsche widmeten sich damals der Flüchtlingshilfe, um einen jungen Liebhaber an Land zu ziehen? Wie viele Firmen sahen einfach eine gute Möglichkeit, Geschäfte zu machen, von den Anbietern der Unterkünfte über Flüchtlingsanwälte bis hin zu den Veranstaltern von Sprachkursen? Oder suchten nur nach einer Möglichkeit, das eigene Ego an der Hilflosigkeit anderer aufzupolieren und sich selbst damit auf einfache Weise zu bestätigen, ein guter Mensch zu sein?
Er hatte also Frauen nach Deutschland gebracht und jemanden für einen anständigen Verbündeten gehalten, der sich als schäbiger Profiteur erwies. Und er konnte – da erinnert er sogar ein wenig an die sehr deutsche Gestalt Michael Kohlhaas – nicht umgehen mit einem Scheitern am deutschen System, das ihm das verweigerte, was er als Gerechtigkeit hatte einfordern wollen.
Diese Geschichte mit den drei Frauen hatte sich bereits 2019 ereignet. Dass das fünf Jahre lang wohl ein beherrschendes Thema blieb, verleitet dazu, zu vermuten, dass da noch persönliches Leid eine Rolle spielte. Vielleicht hat er eine Schwester, der er nicht helfen konnte. Oder eine schwer traumatisierte Mutter. Dinge, die er theoretisch als Psychiater hätte entschlüsseln können müssen – aber die forensische Psychiatrie ist weitgehend eine Einrichtung zur medikamentösen Aufbewahrung, selbst wenn sie nicht ein solches Horrorszenario bietet, wie es im Fall Gustl Mollath wurde, und nicht jede psychotherapeutische Schule beschäftigt sich damit, wie Gefühle und Wirklichkeit miteinander zusammenhängen.
Vielleicht lässt sich auch seine vehement antiislamische Haltung aus Überforderung erklären. Die Variante, die er kennt, der Wahhabismus, ist ja nun bei Weitem nicht der ganze Islam, und über Jahrhunderte hinweg war die islamische Welt offener und toleranter als die christliche, schätzungsweise bis zum Ende der Hexenverbrennungen in Westeuropa vor etwa 250 Jahren. Nach den unzähligen Religionskriegen, mit denen die Reformation Europa beglückte, war die Anerkennung einer Gleichwertigkeit, wie sie etwa in Lessings "Nathan der Weise" zu finden ist, auch ein Ergebnis der Ermattung.
Aber dieses heutige Deutschland liebt die einfachen Antworten und verabscheut Differenzierungen. Wenn eines aus den wenigen Informationen zu entnehmen ist, die man sich über den Verdächtigen zusammensuchen kann, dann, dass er auf der Suche nach Verbündeten war. Was sicher nicht nur mit der politischen Geschichte zu tun hatte, damit, dass er es gewissermaßen für seinen Auftrag hielt, saudischen Frauen zur Flucht zu verhelfen, sondern auch mit der privaten Erfahrung der Migration – die eben in der Regel nicht so verläuft, wie das erzählt wird. Vielleicht hätte er zu einer differenzierteren Sicht gelangen können, wäre sie in der deutschen Gesellschaft im Angebot.
Ist sie aber nicht. Da gibt es die einen, die selbst die Kopfabschneider irgendwie toll finden, und die anderen, die die ganze Religion pauschal ablehnen. Dank der Tatsache, dass nur noch die wenigsten die Geschichte des europäischen Christentums gut genug kennen, um zu wissen, dass sich hinter unterschiedlichen religiösen Strömungen immer auch gesellschaftliche Konflikte verbergen, für die der Glaube letztlich nur die Sprache ist, in der sie sich ausdrücken, man das Gesprochene aber nicht der Sprache zum Vorwurf machen kann.
Auch diese deutsche Polarisierung mag in den politischen Aktivismus hineingespielt haben, der letztlich radikal genug wurde, dass die saudischen Behörden vor dem Verdächtigen warnten (selbst wenn man das bei Saudi-Arabien mit einer Prise Salz zu sich nehmen sollte). Dass sich dieses Deutschland nicht als die erwünschte bessere Heimat erwies, aber für das Leid und das Scheitern an der Migration nirgendwo Platz ist, es nirgendwo ausgesprochen werden darf, auf der einen Seite nicht, weil die bejubelten Migranten nur das Hilfsmittel zur eigenen Erhöhung sind, auf der anderen, weil ebendiese Migranten grundsätzlich abgelehnt werden. Es gibt keine Worte für das Nicht-Ankommen. Nicht in der alten Heimat, weil da das Märchen vom freien Europa im Weg steht, aber auch nicht in der neuen.
In den meisten Fällen führt das zu tiefen Depressionen, in manchen Fällen zu sichtbaren Explosionen von Gewalt. Das passierte übrigens schon ganz ohne geopolitische Verwicklungen, als Ergebnis der eben nicht beglückenden Migrationserfahrung. Man kann sich die US-Serie 1883 dazu ansehen, in der eine größere Gruppe europäischer Zuwanderer versucht, Neuland zu erreichen, und dabei vollständig untergeht – an einer Welt, die sie nicht versteht, an unbekannten Gefahren ebenso wie an den eigenen Erwartungen.
Das ist nicht nur eine Inszenierung einer historischen Situation. Das ist auch eine Metapher auf die Erfahrung der Migration jenseits der Märchen vom reich gewordenen Einwanderer. Selbst die fanatischsten Anhänger der Politik der offenen Grenzen würden, nähme man sie und versetzte sie in ein anderes Land, spätestens nach einem halben Jahr entdecken, dass sie doch Wurzeln haben, die sie weit tiefer mit dem Land verbinden, aus dem sie kommen, als sie jemals geahnt hätten.
Gestern Nacht, als die ersten Gerüchte von einem syrischen Täter sprachen, begann in den sozialen Medien das bereits eingeübte Theater. Da wurde beispielsweise sehr bald jubelnd : "Die Mitglieder der #AFD verbreiten im Zusammenhang mit dem mutmaßlichen Anschlag erneut zahlreiche Falschinformationen. Unter dem Hashtag #magdeburg habe ich bereits Strafanzeige gegen drei Personen erstattet." Oder es kamen die entsprechenden Kommentare, natürlich werde das jetzt für Hass und Hetze genutzt. Das typische Szenario, das seit der Kölner Silvesternacht vertraut ist, nur in jeder neuen Runde mit mehr Wucht. Aber schon damals wurde etabliert, dass man Rassist sein musste, wenn man darauf bestand, dass dort etwas passiert war.
Wenn das jetzt schlicht umgedreht und erklärt wird, der Anschlag in Magdeburg habe stattgefunden, weil der Verdächtige AfD-Posts geteilt hat, ist das nicht näher an der Wahrheit als die erste Variante. Die Beziehung des Verdächtigen zum Milieu der Migrationsbefürworter ist eher die eines abgewiesenen Liebhabers als die eines Gegners. Aber gleich, was sich die verschiedensten Beteiligten in den kommenden Wochen um die Ohren hauen werden, selbst wenn versucht werden sollte, aus diesem Angriff irgendwie so etwas wie ein Verbot von X oder noch mehr Zensur herauszuschütteln – was es wirklich bräuchte, wäre endlich ein Ansatz von Ehrlichkeit in der ganzen Migrationsdebatte. Ohne zu glorifizieren oder zu verteufeln, ohne die Frage der Menschlichkeit gegen die der Souveränität zu stellen, und ohne dieses grauenvolle Schweigen über das wirkliche Gesicht der Migration weiter aufrechtzuerhalten. Denn dieses Schweigen wird immer neue Gewalt gebären.
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Mit der vollen Härte des Staates wird „Hass im Netz“ verfolgt – Rentner wie Stephan Niehoff spüren die ganze Staatsgewalt wegen eines „Schwachkopf“-Memes. Gleichzeitig kann der Täter von Magdeburg völlig unbehelligt seine Pläne ins Netz schreiben. Ein Fanal für die politisierte Prioritätensetzung der Innenbehörden, die Leben kostet.
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Schon wieder ein Anschlag, schon wieder ein Weihnachtsmarkt. Die Nachrichten aus Magdeburg erschüttern. Kann man sich in Deutschland noch sicher fühlen? In einem Land, in dem binnen eines Jahres Dutzende Menschen Opfer von Terroranschlägen wurden? Erst Mannheim, dann Solingen und nun Magdeburg. Auch, wenn im letzteren Fall vieles gegen ein islamistisches Motiv spricht, eint die Taten doch ein grundlegendes Problem: das eklatante Versagen der deutschen Sicherheitsbehörden. Besonders deutlich zeigt sich dieses Versagen im Fall Magdeburg.
Ein scheinbar Wahnsinniger kündigt über Jahre hinweg öffentlich im Netz eine Bluttat an – und dennoch gelingt es ihm, seine Pläne ungehindert in die Tat umzusetzen. Bereits im Mai hatte Taleb Al-Abdulmohsen in kryptischen Statements über Attacken gesprochen. Die Behörden, unter anderem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sowie mehrere Polizeistellen in Deutschland, waren schon vorher auf ihn aufmerksam gemacht worden. Passiert ist nichts.
Warum wurde dieser Mann nicht überwacht, warum hatten die Behörden ihn nicht auf dem Schirm? Der Staat hat in den letzten Monaten bewiesen, dass er in der Lage und Willens ist, das Internet umfassend zu kontrollieren – die volle Härte des Staates kam etwa auf Menschen wie Stephan Niehoff nieder, der Robert Habeck humoristisch als „Schwachkopf“ bezeichnet hatte. Auch Kritiker von Annalena Baerbock oder Manuela Schwesig konnte der Staat nicht nur schnell ausfindig machen, sondern auch bestrafen und gar ins Gefängnis stecken. Abdulmohsen aber konnte über lange Zeit seine gefährlichen Fantasien äußern, ohne dass jemand eingreift oder sich überhaupt zuständig zu fühlen scheint.
Dabei war es doch Nancy Faesers große Aufgabe, gezielt gegen Hass im Netz vorzugehen. Keiner ihrer Amtsvorgänger legte so einen Fokus auf „Hasskriminalität“ im Internet. Ihr BKA veranstaltete regelmäßig „Aktionstage“ gegen Hass im Netz, wo teilweise noch viel harmlosere Äußerungen als das „Schwachkopf“-Meme verfolgt wurden. In Berlin wurde ein junger Mann Ziel von Polizeimaßnahmen gegen „Hass“, weil er generell die Bewohner eines anderen Stadtteils beleidigt hatte. Mutmaßlich nur, um an solchen Aktionstagen die Quote vollzukriegen.
Doch was genau gilt eigentlich als Hass? Ist es, Robert Habeck als „Schwachkopf“ zu bezeichnen oder zu fragen, wann Annalena Baerbock „erwachsen“ wird? Oder ist es nicht vielmehr Hass, wenn jemand öffentlich ankündigt, mehrere Menschen töten zu wollen? Geht man nach dem Handeln der deutschen Behörden, scheint die Antwort klar zu sein: Erstere Äußerungen haben offenbar Priorität. Offene Ankündigungen von Terror hingegen bleiben ohne Folgen. Es ist ein bewusst verantwortetes Staatsversagen.
Nicht einmal eine Warnung von saudi-arabischen Behörden konnte die deutschen Behörden dazu bewegen, zu handeln. Und das bei einem Mann, der mutmaßlich für den Staat arbeitete. Scheinbar will man Hinweisen nicht nachgehen und dafür sorgen, dass die Bürger ohne Sorgen und unbehelligt auf Weihnachtsmärkte gehen können – ohne die Gefahr, von einem Wahnsinnigen abgestochen oder totgefahren zu werden. Aber wenigstens ist man gegen vermeintlich rechten Hass auf unsere sich gottgleich und unfehlbar fühlenden Politiker vorgegangen. Ein voller Erfolg für Nancy Faeser!
Magdeburg ist ein Fanal für einen total versagenden Staat, der politische Gegner zunehmend hart verfolgt und eine total politisierte Polizeiarbeit durchsetzt – bei echten Gefahren für uns alle jedoch untätig bleibt, wegschaut und versagt. Wenn ein Terrorist und Massenmörder offen über Anschlagspläne schreibt, bleiben die Behörden untätig.
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