07.12.2024, 15:41
Telepolis: Es lebe die retroaktive Zensur!
6 Dez. 2024
Die derzeitige Neigung, Informationen nur noch höchst gefiltert zugänglich zu machen, beschränkt sich nicht auf die Gegenwart. Das Internetmagazin Telepolis, einst ein Medium mit beachtlicher Bandbreite, wird nun rückwirkend zensiert.
Symbolbild
Von Dagmar Henn
Alte Fans des Portals wird diese Meldung erschrecken: Der derzeitige Chefredakteur des Magazins Telepolis, Harald Neuber, hat unter der Überschrift "Qualitätsoffensive: Telepolis überprüft historische Artikel" ein wichtiges, frei zugängliches Archiv geschlossen und gleichzeitig , rückwirkend zu zensieren.
Telepolis war über viele Jahre hinweg, als die meisten heute bekannten Alternativmedien noch nicht existierten, etwa bei der Einführung von Hartz IV, eine der wichtigsten Informationsquellen, wenn man eine andere Sicht als die in den Leitmedien gebotene wollte. Es hatte keine politisch einheitliche Ausrichtung, sondern eine große Bandbreite; wichtig war aber, dass in der Regel die Quellen verlinkt waren, sodass man sich selbst ein Bild machen und mit dem vorhandenen Material sogar weiterarbeiten konnte. Das reichte von alternativen Wirtschaftstheorien über soziale Themen bis hin zu Technik und Geschichte; Telepolis war für viele ein täglicher Ankerpunkt.
Gelegentlich fanden sich besondere Perlen. So half Telepolis (beziehungsweise sein ehemaliger Chefredakteur Florian Rötzer) beispielsweise, einen – auch im Zusammenhang mit der aktuellen Lage – politisch wichtigen Dokumentarfilm in Deutschland zugänglich zu machen, "Der Fall Magnitzki" von Andrei Nekrassow. Magnitzki, ein russischer Steueranwalt, wurde in den USA sogar zum Namensgeber für ein gegen Russland gerichtetes Gesetz, weil sein ehemaliger Arbeitgeber, der Investor Bill Browder, erklärt hatte, die russische Polizei habe ihn ermordet, um einen Skandal zu vertuschen.
Nekrassow hatte lange zu der Geschichte recherchiert, um am Ende der Recherchen zu dem Schluss zu kommen, dass der zweifelhafte Geschäftsmann in der Geschichte Browder hieß und Magnitzki in dessen Machenschaften verstrickt gewesen sei. Dieser Film war ursprünglich für Arte produziert worden, wurde von diesem Sender aber kurzfristig , weil er der offiziellen Erzählung widersprach. Das geschah bereits 2016. Mehr noch, Arte weigerte sich nicht nur, ihn auszustrahlen, sondern bemühte sich auch, seine Verbreitung zu verhindern.
Telepolis sorgte dafür, dass er in – zugegeben kleinen – Aufführungen gezeigt werden konnte. Ein kleines Beispiel, wie wichtig derartige Portale sein können. Auch in anderen Zusammenhängen – beispielsweise in Bezug auf den Donbass ab 2014 – war Telepolis eine Ausnahme. Leider stellte sich mit dem Wechsel des Chefredakteurs 2021 heraus, dass dem nicht so blieb.
Harald Neuber, der neue Chefredakteur, sollte eigentlich, wenn man seine Vita betrachtet, nicht allzu viel Schaden anrichten. Er war Mitarbeiter der Linken-Abgeordneten Heike Hänsel, gründete einst das Lateinamerka-Nachrichtenportal Amerika21 mit und war in diversen Krisenregionen journalistisch tätig. Allerdings passte sich das Portal sichtbar an, gerade in Bezug auf alles, was mit der NATO und ihren Narrativen zu tun hat.
Inzwischen hatte Telepolis aber genug Konkurrenz bekommen, dass diese Veränderung nicht mehr über das Portal selbst hinausreichte. Die alten Artikel waren jedoch nach wie vor für allerlei Recherchen nützlich, auch wenn sie mit einem Warnhinweis versehen wurden, sie seien nicht nach den derzeit gültigen Richtlinien erstellt worden.
Jetzt wird jedoch in der Vergangenheit niedergerissen. Was nicht nur einen Verlust an Information darstellt, der bedauerlich genug ist. Es ist ein Versuch, die Vergangenheit zu fälschen. Denn im Gegensatz zu Printmedien ist ein Onlinemedium wie Telepolis, außer, es hätten sich größere Teile auf Archivseiten verirrt, stets sein eigenes Archiv. Ohne zusätzliche abgesicherte Kopien in der Bayerischen Staatsbibliothek und den anderen Pflichtbibliotheken. Bei einer gedruckten Zeitung liegen die Pflichtexemplare mit der Veröffentlichung in den Archiven, und wenn einer künftigen Redaktion das, was zehn Jahre vor ihrer Inthronisierung geschrieben wurde, nicht mehr gefällt, ist daran nichts zu ändern. Neuber will die Geschichte umschreiben.
Ich habe vor vielen Jahren einmal Exemplare der Vossischen Zeitung aus dem Jahr 1919 durchstöbert, weil ich etwas über die Atmosphäre zur Zeit der Januarkämpfe in Berlin erfahren wollte. Das überzeugendste Detail, über das ich gestolpert bin, war ein Gedicht in einer Werbeanzeige der Berliner Pferdemetzger, das gereimt den Verzehr von Pferdefleisch als revolutionäre Tat anpries. Seitdem ist das mein persönliches Beispiel dafür, was Antonio Gramsci mit Hegemonie meinte.
Die Vossische Zeitung hätte, wäre sie so gepolt wie Neuber heute, diese Seiten einige Monate später aus ihren Archivexemplaren herausreißen lassen, und ich wäre gute 65 Jahre später nicht darauf gestoßen. Mit die interessantesten historischen Informationen ergeben sich aus Material, das die Zeitgenossen gar nicht für einen Informationsträger halten.
Was besagen soll: Die Pflicht, die vergangenen Ausgaben authentisch zu erhalten und nicht in die Vergangenheit zensorisch einzugreifen, sollte jedem klar sein, der in Medien tätig ist und vielleicht irgendwann im Zusammenhang mit historischen Zeiträumen versucht hat, sie unmittelbar zu erfassen. Es ist eines der großen Risiken digitaler Information, dass ältere Informationen im Handstreich vernichtet werden können, statt angemessen aufbewahrt und verfügbar gemacht zu werden.
Dass es ausgerechnet der Chefredakteur eines Magazins ist, das als intellektueller Ableger eines Verlags für Computerzeitschriften traditionell eigentlich auch eine kritische Sicht auf den Umgang mit Daten pflegte, der jetzt diesen Schritt tun will, die Vergangenheit zu "bereinigen", ist erschreckend. Denn was Neuber da tut, ist nichts anderes als eine digitale Version der Bücherverbrennung.
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Der Klartexter
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