25.06.2023, 20:18
Die Rückkehr der Unfreiheit – eine existenzielle Bedrohung für die Menschheit
25 Juni 2023
In den 1970er Jahren machten die Sowjets den Zugang zu ausländischer Presse so gut wie unmöglich. Jetzt macht der von den USA geführte kollektive Westen dasselbe in Bezug auf die russischen Medien. Und dies stellt eine existenzielle Bedrohung für die Menschheit dar.
Symbolbild. - Quelle: © D-Keine
Von Yakov M. Rabkin
Vor fast fünfzig Jahren bin ich aus der Sowjetunion ausgewandert. Der einzige Grund, alles zu verlassen, was mir vertraut war, war die tiefe Sehnsucht nach Meinungsfreiheit. Ich ärgerte mich über Beschränkungen für ausländische Veröffentlichungen und bedauerte die Praxis, systematisch den Empfang ausländischer Radiosender wie des BCC World Service oder Radio Canada International zu stören. Es war, als würden die sowjetischen Medien nur noch gehorsam die Parteilinie wiedergeben, ohne Raum für echte Diskussionen oder Debatten zu lassen.
Sicherlich waren die sowjetischen Behörden zu meiner Zeit nicht so repressiv wie während der Herrschaft Stalins, aber die Angst blieb latent bestehen. Sie warf einen Schatten auf politische Diskussionen und beschränkte sie auf einen kleinen Kreis vertrauenswürdiger Freunde. Unsere wahren Gedanken und Meinungen auszudrücken, fühlte sich an wie eine gefährliche Gratwanderung.
Ich habe meine Heimatstadt Leningrad – heute Sankt Petersburg –, habe meine Freunde, meinen Bruder, die Gräber meiner Eltern und Großeltern zurückgelassen. Es war riskant, einen Auswanderungsantrag zu stellen, da man im Zuge dessen fast immer seinen Arbeitsplatz verlor und sich sozial ausgegrenzt sah, während man sich gar nicht sicher sein konnte, ob die sowjetischen Behörden das Ausreisevisum genehmigen würden. Ich hatte Glück. Innerhalb weniger Monate – im Mai 1973 – wurde mir die sowjetische Staatsbürgerschaft entzogen und ich durfte eine einfache Fahrkarte nach Wien kaufen. Mein Traum von Freiheit wurde erfüllt. Das erste, was ich in Wien kaufte, war ein Exemplar von The International Herald Tribune.
Im November 1973 wechselte ich an die Universität Montréal, die seitdem meine berufliche Heimat ist. Über Lehre und Forschung hinaus verfolgte ich gespannt die politischen Debatten über den Vietnamkrieg, über den von der CIA organisierten Sturz der Allende-Regierung in Chile und die Folgen des Oktoberkrieges in Israel. Es gab heftige Debatten über die Annäherungsversuche der USA an China und natürlich über die Beziehungen zu meinem ehemaligen Heimatland. Einige lobten die Entspannungspolitik zwischen Breschnew und Nixon, andere machten sich Sorgen über deren Fallstricke.
Was mich am meisten beeindruckte, war die Vielfalt all der Meinungen, die ihren Weg auf Zeitungsseiten und Fernsehbildschirme fanden. Leitartikel und Leserbriefe boten ein breites Spektrum an Ansichten, von denen einige nicht nur die Politik kritisierten, sondern auch praktikable Alternativen anboten. Bald begann ich, meine Meinung zu äußern, zunächst in Leserbriefen, später in Leitartikeln. Es war berauschend, meine bürgerliche und intellektuelle Verantwortung zu übernehmen und mich an einer freien politischen Debatte zu beteiligen.
"Heute wird diese Freiheit in verschiedenen außenpolitischen Fragen ausgehöhlt."
Eine dieser Fragen ist Israel. Journalisten und Politiker überlegen es sich zweimal, bevor sie Kritik an Tel Aviv üben. Sie haben Angst davor, des Antisemitismus beschuldigt zu werden. In den frühen 1970er Jahren entwickelte Abba Eban, der eloquente, in Südafrika geborene israelische Außenminister, eine Strategie, um Kritik an seinem Land zu unterdrücken, indem er Kritikern stets Antisemitismus vorwarf. Diese Strategie hat sich inzwischen durchgesetzt: Heutzutage sind die Qualifizierung der Behandlung der Palästinenser durch Israel als Apartheid oder sogar der friedliche Boykott israelischer Produkte im Supermarkt in vielen westlichen Ländern offiziell als antisemitisch verboten. Das macht Israel außergewöhnlich und schützt es damit vor rationalen Debatten.
Ein weiteres, noch wichtigeres Thema, das aus der rationalen öffentlichen Debatte verschwunden ist, ist die westliche Politik gegenüber Russland. Dieses Thema ist nicht nur deshalb wichtiger, weil Russland größer und mächtiger ist, sondern auch, weil es eine potenzielle nukleare Vernichtung des Lebens auf der Erde mit sich bringt. Schon lange vor Februar 2022 haben die meisten NATO-Staaten – und davor auch die Ukraine – den Zugang zu russischen Medien eingeschränkt, was im Westen selbst während des Kalten Krieges nie passiert ist. So wie die sowjetischen Behörden die Störung westlicher Radiosendungen als Maßnahme gegen "imperialistische Subversion" rechtfertigten, "schützt" nun eine Reihe von nationalen Behörden die Bürger in Europa und Nordamerika vor "russischer Desinformation".
Prominente westliche Wissenschaftler wie Jeffrey Sachs von der Columbia University und John Mearsheimer von der University of Chicago wurden an den Rand gedrängt und sind aus den Mainstream-Medien verschwunden. Ihre Infragestellung der westlichen Politik gegenüber Russland wird als "Kremlpropaganda" abgetan.
"Die militärische Spezialoperation Russlands in der Ukraine hat sich zu einer moralischen Frage entwickelt – und es darf einfach nicht mehr sein, die Position des Westens zum Russland-Ukraine-Konflikt in Frage zu stellen."
Darüber hinaus stoßen die wenigen Versuche, die westliche Politik in Osteuropa zu untersuchen, auf unüberwindbare Hindernisse. Beispielsweise versuchte der Verein Montréal pour la paix (Montreal für den Frieden), eine Debatte mit bekannten Experten für internationale Beziehungen und Kanadas Außenpolitik zu organisieren. Die Veranstaltung versprach, "Fakten zu präsentieren, die man noch nie in unseren Medien oder aus den Büros von Justin Trudeau und Verteidigungsministerin Mélanie Joly gelesen oder gehört hat". Die Einrichtung, die ursprünglich der Anmietung ihrer Räumlichkeiten für die Veranstaltung zugestimmt hatte, gab dem Druck der "ukrainischen Mitbürger" – wie sie es nannten – nach und kündigte daraufhin den Mietvertrag. Ein anderes Unternehmen akzeptierte zunächst die Anmietung seiner Räumlichkeiten, lehnte dies jedoch umgehend wieder ab, um "die Stammkunden nicht zu beleidigen".
Angesichts dieser Rückschläge musste die Veranstaltung in einen nahegelegenen Park verlegt werden. Es gab drei Redner, ein paar Dutzend Menschen mittleren Alters, meist grauhaarige, die kamen, um ihnen zuzuhören, und etwa die gleiche Anzahl junger, energischer Demonstranten, die ukrainische Flaggen und Anti-Russland-Plakate schwenkten. Sie versuchten, die Lautsprecher mit Lärm und lauten Liedern zu übertönen. Die Polizei wurde hinzugezogen, um die beiden Gruppen zu trennen und Gewalt zu verhindern.
Yves Engler spricht auf der Veranstaltung in Montreal am 28. Mai 2023. - Yakov M. Rabkin
Doch im Verhalten der Demonstranten zeigte sich etwas Merkwürdiges. Als einer der Redner, Yves Engler, ein Autor, der für seine prägnanten Bücher über kanadische Außenpolitik bekannt ist, sagte, dass die Ukrainer das Recht hätten, russischen Truppen Widerstand zu leisten, begannen die Demonstranten lautstarken "Schande über dich!" zu skandieren. Die gesamte Veranstaltung fand auf Französisch statt. Es zeigte sich jedoch, dass die meisten ukrainischen Demonstranten überhaupt kein Französisch verstanden. Der Gegenstand ihrer Wut konnte also gar nicht der Inhalt des Gesagten sein; sie protestierten nur gegen die Freiheit, überhaupt über den Krieg in der Ukraine öffentlich zu diskutieren. Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie die Unterdrückung der Debatte über Russland und die Ukraine die gesamte Bandbreite umfasst – von Graswurzelveranstaltungen über Universitäten bis hin zu den Medien.
Debattenfreiheit ist aber keineswegs nur ein demokratisches Recht. Es ist auch ein wichtiger Mechanismus zur Formulierung und Bewertung politischer Alternativen.
"Wenn ein Konflikt in einen epischen Kampf zwischen Gut und Böse umgedeutet wird, untergräbt die Selbstgerechtigkeit unter dem Deckmantel moralischer Rechtschaffenheit das Potenzial für jegliche Diplomatie."
Der verstorbene Oberrabbiner Großbritanniens, Jonathan Sachs, bemerkte scharfsinnig, dass "Gerechtigkeit und Selbstgerechtigkeit sich gegenseitig ausschließen". Tatsächlich erhöht diese vorgeblich moralische Unterdrückung der Debatte die Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs und dessen Folgen, die US-Strategen 1962 treffend als MAD (Mutually Assured Destruction – Gegenseitig zugesicherte Vernichtung) definierten.
Das gegenwärtige Klima der Unfreiheit untergräbt nicht nur unsere Grundwerte. Es stellt eine existenzielle Bedrohung für die Menschheit dar.
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Quelle:
"Wenn Unrecht Gesetz wird,wird Rebellion Pflicht."
Der Klartexter
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