20.11.2024, 18:57
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 20.11.2024, 18:59 von Klartexter.)
Die richtige Seite: Standpunkte
19 Nov. 2024
Die Konflikte im Nahen Osten und im Donbass deuten auf grundlegende Veränderungen in der Welt hin. Sie stellen bisherige Sichtweisen und Wertmaßstäbe in Frage. Mit der Zuspitzung dieser Auseinandersetzungen drängen sich auch Entscheidungen und Stellungnahmen auf.
Quelle: © Westend61
Von Rüdiger Rauls
Die Macht der Worte
Am 7. Oktober, dem Jahrestag jenes Ereignisses, das der Auslöser war für die seit einem Jahr andauernde Eskalation zwischen dem Staat Israel und seinen Nachbarn, veröffentlichte die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) einen Kommentar mit dem Titel: "Auf der Seite der Überfallenen". Sein Verfasser Reinhard Müller versucht, Orientierung zu geben. Denn "Zeitenwenden sind auch politische Wasserscheiden", und diese rufen nicht nur Verunsicherung hervor, sondern fordern auch Parteinahme. Wo muss man stehen, um einerseits nichts falsch zu machen und andererseits moralischen Ansprüchen gerecht zu werden? Denn "Umstürze erfordern Bekenntnisse".
Der Einfluss der FAZ gerade auf das gesellschaftliche Führungspersonal in Deutschland darf nicht unterschätzt werden. Sie bestimmt in weiten Teilen dessen Denken und damit auch die Grundsätze ihrer Entscheidungen und Handlungen. Dagegen informiert sich der überwiegende Teil der Bevölkerung über die Boulevard-Presse, die Tagesschau oder ähnliche Medien und holt sich dort die Sichtweisen auf die Welt und Erklärungen für die Vorgänge ab. Immer mehr Menschen aber entziehen sich diesen Sichtweisen, indem sie sich über sogenannte alternative Medien informieren.
Dass deren Anteil zunimmt, erweckt nicht nur Verunsicherung, sondern auch Unmut bei vielen Meinungsmachern. Die eigenen Sichtweisen werden dadurch in Frage gestellt, und bei den kommerziellen Medien sind damit auch Geschäftsinteressen berührt. Sie versuchen, diese alternativen Medien zu bekämpfen, indem sie teilweise als Verschwörungstheoretiker abgetan werden. Gerade in Bezug auf die Konflikte im Nahen Osten und im Donbass wird diese Auseinandersetzung immer weniger auf der Ebene der Tatsachen und Argumente geführt, sondern auf jener der Propaganda und der Verunglimpfung. Dazu wird mit Begriffen wie Antisemitismus, Rechtsextremismus, Putin-Versteher oder Unterstützer des "russischen Angriffskrieges" hantiert.
Dass nun die [i]Frankfurter Allgemeine[/i] einen solchen Appell wie den obigen absetzt, deutet auf Befürchtungen hin, dass der Kampf auf der Ebene der Argumentation verloren zu gehen droht. Dafür sprechen auch die Klagen über die Zunahme des sogenannten russischen Einflusses, die Angst vor Russlands angeblichen Versuchen, Wahlen im Westen zu manipulieren. Die Ausweitung der Einschränkungen der Informationsfreiheit und des Meinungsaustausches durch die Behinderung von Medien wie RT und Sputnik oder sonstigen kritischen Foren unterstreichen diese Befürchtungen.
Man glaubt offensichtlich, die eigenen Bürger in ihrer Meinungsbildung entmündigen zu müssen. Man traut ihnen nicht zu, sich selbst ein Bild über die Vorgänge zu machen oder befürchtet gar, sie könnten zu anderen Ansichten kommen, als von den Meinungsmachern erwünscht und verbreitet. Für wie schwach aber muss man diese Argumente, Ansichten und Erklärungen halten, wenn man den russischen mehr Einfluss auf die Meinungsbildung und Wahlentscheidungen zutraut als den eigenen? Sie sagen damit, dass sie die eigenen Sichtweisen nicht mehr für überzeugend halten trotz der täglichen Infusionen durch Tagesschau, Tageszeitungen und allabendliche Politiksendungen.
Die Macht der Einbildung
Wo nicht mehr überzeugt werden kann, müssen Appelle die Menschen bei der Stange halten. Aber auch diese müssen auf festem Grund stehen, wollen sie nicht den Charakter von Glaubensbekenntnissen ohne Beweiskraft oder gar Durchhalteparolen annehmen. Wie nicht anders zu erwarten, stützt sich Müllers Appell auf die angenommene moralische Überlegenheit des politischen Westens. Diese soll im Eintreten für die Schwachen und die Opfer bestehen. Man gibt vor, "auf der Seite der Überfallenen" zu stehen.
Das hört sich im ersten Moment heldenhaft an. Aber weiter als bis zum 24. Februar 2022 darf der Blick nicht zurückgehen, sonst könnte dem einen oder anderen auffallen, dass der politische Westen nicht immer auf der Seite der Überfallenen stand, sondern selbst sehr oft andere überfiel. Und auch die neuesten kriegerischen Auseinandersetzungen in der Welt kann man nur im Müllerschen Lichte sehen, wenn man die Geschichte erst 2022 beginnen lässt. Alles andere davor muss man unscharf stellen oder umdeuten. Wenn aber all diese Betäubungsmittel des historischen Bewusstseins nicht mehr wirken, dann hilft nur noch das Standardargument, dass nämlich alle vergleichbaren Handlungen etwas ganz anderes seien, wenn sie vom Westen begangen wurden.
Zu den Bekenntnissen, die Müller fordert, gehört es, für die "Unverletzlichkeit der Grenzen und für die Souveränität der Staaten" einzutreten. Inwieweit diese Grundsätze bei der Entstehung des Staates Israel eingehalten wurden, hätte Müller im sehr umfangreichen Archiv der FAZ recherchieren können. Jedoch im Fall des Krieges der NATO gegen Jugoslawien, der Herauslösung des Kosovo aus Serbien, die Kriege gegen den Irak und Libyen, ja selbst in der Übernahme der Krim durch die Ukraine dürfte Müllers letzte Zuflucht vermutlich in der Standardantwort bestehen: "Das war etwas anderes."
Vielleicht ist er aber auch schon so geschichtsvergessen wie die meisten westlichen Meinungsmacher, dass man das nicht nur aus dem eigenen Bewusstsein gelöscht hat. Man setzt den Lauf der Geschichte erst dort an, wo die Ereignisse die eigene Sichtweise bestätigen. Dass Israel sich schon lange vor dem 7. Oktober des vergangenen Jahres das Recht herausnahm, Iran oder Syrien militärisch anzugreifen, ohne von diesen selbst angegriffen worden zu sein, fällt offenbar aus dem geschichtlichen Zeitraum, den die Müllers überblicken. Der Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt beginnt für ihn erst am 7. Oktober 2023 mit dem Angriff der Hamas auf Israel. Davor haben für ihn und seinesgleichen offenbar Friede, Freude, Eierkuchen geherrscht?
Ähnlich ist auch die Sicht auf den Ukrainekonflikt. Was vor dem 24. Februar 2022 geschah, scheint keine Rolle zu spielen oder wird umgedeutet, dass es zum eigenen Weltbild passt. Auch dass die Angliederung und der Verbleib der ehemals selbstständigen Republik Krim durch die Ukraine bis 1994 immer wieder völkerrechtswidrig durchgesetzt wurden, scheint für Müller nicht mit dem Grundsatz der Unverletzlichkeit der Grenzen und Staaten zu kollidieren.
Diese Liste könnte noch um einige Fälle erweitert werden, sie hätte aber vermutlich nur wenig Einfluss auf dieses Denken. Aber gerade dieses gilt es zu untersuchen. Woher kommt es? Was ist seine Grundlage? Denn es übt großen Einfluss auf die Gesellschaft aus und ist gleichzeitig von deren Grundkonsens selbst getragen und durch ihn geschützt. Es passt sich den Veränderungen in der Welt an, ohne dass es jedoch überwunden und in der Folge gar ganz abgelegt werden könnte. Die Grundlagen dieses Denkens haben sich in all den Jahren nicht verändert – trotz aller Veränderungen in der Welt.
Die Macht der Gewohnheit
Dieses Denken ist geprägt von der Vorstellung der eigenen Überlegenheit, und diese mündet in einem Verhalten, das auf höheren Rechten zu beruhen scheint. Das sagt Müller so allerdings nicht, vermutlich sind er und seinesgleichen sich dieses Verhaltens nicht einmal bewusst. Denn es ist für sie selbstverständlich. Es ist nicht Gegenstand ihrer Betrachtungen. Es hat etwas Naturgegebenes, das scheinbar mit der Geburt bereits vorhanden ist wie das Geschlecht. Dieses Denken ist eine Gewohnheit wie die tägliche Fahrt zur Arbeit, die keine Fragen aufwirft; die ebenso wenig Bedenken auslöst wie die Bahn der Erde um die Sonne.
Da ist einfach nichts, woran sich Zweifel entzünden könnten. Es gibt bei diesen Vordenkern keine Widersprüche zwischen ihrem Bild von der Welt und der Welt selbst. Zweifel, wenn sie denn entstehen sollten, kommen von außen, nicht von innen. Wenn etwas fragwürdig ist, dann sind es in den Augen der Müllers nicht die eigenen Sichtweisen, sondern die Zweifel der anderen. Diese liegen schlicht und einfach falsch. Das Denken, das die Müllers mit sich herumtragen, scheint zeitlos und mit der Erde selbst bereits erschaffen worden zu sein. Und aus jedem abgewehrten Zweifel geht es gestärkt hervor, weil es sich wieder als richtig und unangreifbar erwiesen zu haben glaubt.
Dieses Denken ist die Frucht einer intellektuellen und ideologischen Nährlösung, in der die Menschen des politischen Westens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs aufgewachsen sind. Aufgefrischt wurde sie noch einmal durch den Untergang der Sowjetunion und ihres Sozialismus sowie die Verdrängung des materialistischen Denkens aus den westlichen Gesellschaften. Die Auseinandersetzung mit den Vorgängen in der Welt findet heute auf der Ebene der Ideale und der Moral statt. Deren Kern sind die sogenannten westlichen Werte wie "Würde und Freiheit jedes Einzelnen … Rechtsstaat und Demokratie … Unverletzlichkeit der Grenzen" und "Souveränität der Staaten". Sie bilden nach Müller den "zivilisatorischen Grundkonsens".
All das erscheint diesen Vordenkern nicht nur als private oder westliche Richtlinie, sondern soll sogar weltweit Geltung haben. Damit haben sie nicht unrecht, denn es sind die allgemeingültigen Werte der Menschheit, und sie zeigen, wohin sich diese entwickeln will. Nur sieht Müller sie nicht als Werte der Menschheit schlechthin, sondern als die einer besonderen Gesellschaft, der westlichen. Es sind westliche Werte, und aus diesem zivilisatorischen Grundkonsens fallen jene heraus, die nicht für Rechtsstaat und Demokratie im westlichen Sinne eintreten. Die Vorstellung, dass andere Völker, Nationen und Staaten auch das Ideal von Rechtsstaat und Demokratie vertreten und leben, aber nach ihrer eigenen kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungsgeschichte, nach ihren eigenen Interessen und Zukunftsplänen, ist für die Müllers unvorstellbar.
Für diejenigen, die sich dem westlichen "zivilisatorischen Grundkonsens" verpflichtet fühlen und dazugehören, versteht es sich von selbst, dass "ein Rechtsstaat auch den schlimmsten Angriff nur mit rechtsstaatlichen Mitteln bekämpfen darf". Deshalb darf der Staat Israel Zehntausende im Gazastreifen umbringen als vielfache Vergeltung für den Anschlag der Hamas. Deshalb darf Israel auch die Attacke eines einzigen Tages ausweiten auf eine Kampagne, die nun schon ein Jahr dauert. Denn er ist ein Rechtsstaat im westlichen Sinne und wendet damit auch "rechtsstaatliche Mittel" an.
Diese Ausschließlichkeit seiner Sichtweisen verdankt der politische Westen einer wirtschaftlichen und vor allem medialen Überlegenheit, die über Jahrzehnte hin nicht in Frage gestellt werden konnte. Damit schien sich dieses Denken als gültig und richtig erwiesen zu haben und verfestigte sich in den westlichen Gesellschaften immer mehr. Von daher ist es für die Müllers unverständlich, wieso auf einmal in der Welt ein neuer Geist einzieht.
Aber die Welt stellt zunehmend in Frage, ob der Westen tatsächlich so überlegen ist, wie er sich immer darstellt und von sich selbst glaubt. Dieser Standpunkt wird in Russland und vielen anderen Staaten als Exzeptionalismus bezeichnet, also die Vorstellung, außergewöhnlich zu sein. Schon gar nicht sieht dieser Teil der Weltbevölkerung ein, dass sich daraus für den Westen höhere Rechte ergeben und ihre eigenen Interessen dahinter zurückzustehen haben.
Alle Zitate aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 7. Oktober 2024: Auf der Seite der Überfallenen.
Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog .
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Die richtige Seite: Aussichten
20 Nov. 2024
Die Konflikte im Nahen Osten und im Donbass deuten auf grundlegende Veränderungen in der Welt hin. Diese Zuspitzung führt zu Verunsicherungen und Ängsten, bei vielen aber auch zur Suche nach neuer Gewissheit. Worin bestehen diese Umwälzungen und wohin führen sie?
Quelle: © NurPhoto / Kontributor
Von Rüdiger Rauls
Die Macht der Veränderung
Selbst in den Zeiten des Systemkonflikts zwischen dem kapitalistischen Westen und dem Sozialismus sowjetischer Prägung schien die Welt stabiler als heute. Dieser Konflikt war grundsätzlicher als der heutige, und trotz der tödlichen Atomwaffenarsenale auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs schien das Handeln der Regierenden besonnener. In den 1970er-Jahren folgte die Entspannungspolitik unter dem deutschen Kanzler Willy Brandt der Erkenntnis, dass keine der beiden Seiten die andere vernichtend schlagen konnte, wie es seinerzeit mit dem Nazi-Reich gelungen war. Ein solcher Versuch würde im Untergang der Zivilisation enden. Es setzte sich die Erkenntnis durch, dass als Zweiter stirbt, wer als erster Atomwaffen gegen die andere Seite einsetzt.
Die westliche Strategie des Antikommunismus, die die Vernichtung des Sozialismus zum Ziel hatte, wurde nach den Niederlagen der USA in Südostasien und dem Zerfall des letzten Kolonialreiches, des portugiesischen in Afrika, ersetzt durch die Strategie der Menschenrechte. Diese war letztlich , trug sie doch ganz erheblich zum Untergang der Sowjetunion bei. Dem Einfluss des westlichen Propaganda-Apparats, der weite Teile der nicht-sozialistischen, aber auch der sozialistischen Welt erreichte, hatte die UdSSR wenig entgegenzusetzen. Ihr fehlten damals die finanziellen, aber auch die technischen Mittel.
Die Entspannungspolitik wollte den Wandel durch Handel, politische Veränderungen sollten den Handelsbeziehungen folgen. Von Osten nach Westen durchstießen die Öl- und Gaspipelines der Sowjetunion den Eisernen Vorhang und westliche Waren, besonders Investitionsgüter, nahmen den umgekehrten Weg. Besonders China profitierte von der Entspannung zwischen Ost und West. Westliche Produktionsmittel nahmen den Weg in den gewaltigen chinesischen Markt mit anderthalb Milliarden Konsumenten. China wurde zur Werkbank der westlichen Industrie aufgebaut. Westliches Kapital wurde in den Aufbau von Produktionsstätten westlicher Unternehmen investiert. Beide Seiten hatten Vorteile von diesem Austausch. Westliche Unternehmen konnten billiger produzieren, und China konnte mit westlichem Kapital seine Wirtschaft aufbauen.
Aber China hatte andere Pläne, als ihm vom Westen zugedacht worden waren. Es wollte sich nicht als billige Werkbank benutzen lassen. Von Anfang an bestand die chinesische Führung auf Technologietransfer. Die westlichen Unternehmen sollten nicht nur die chinesische Arbeitskraft ausbeuten, sie sollten auch ihr Wissen mit den Chinesen teilen. Diese lernten schnell und erwarben einen bescheidenen Wohlstand. Heute ist das Land der Mitte dem politischen Westen in vielen Bereichen von Technik, Wissenschaft und Produktion zumindest ebenbürtig. Besonders in den Zukunftsindustrien wie Telekommunikation und regenerative Energiegewinnung ist China inzwischen weltweit führend.
Die Macht des Zweifels
Der Aufstieg Chinas veränderte die Welt. Die bisher noch unterentwickelten Länder sind nicht mehr von der Investitionsbereitschaft der westlichen Staaten und deren Bedingungen abhängig. Denn chinesische Initiativen wie die Neue Seidenstraße, die sich inzwischen als Belt-and-Road-Initiative (BRI) zu einer weltweiten Handelsinfrastruktur entwickelt hat, sowie die Gründung der BRICS mit ihrer New Development Bank stellen das westliche Entwicklungs-Monopol in Frage. Der Westen verliert zunehmend seine wirtschaftliche Vormachtstellung, die in seiner überlegenen Technik bestand und in seinem hohen Maß an investitionsbereitem Kapital.
Chinas Wirtschaftskraft, Russlands Militärmacht und die Bodenschätze des Globalen Südens stellen nicht nur die wirtschaftliche Macht des Westens in Frage. Durch deren immer umfassendere Zusammenarbeit wird auch dessen politische Vormachtstellung angegriffen. Die Völker der Welt stellen die Rechtmäßigkeit des westlichen Anspruchs in Frage, die Geschicke der Welt alleine und eigenmächtig bestimmen zu wollen. Sie sind immer weniger bereit, sich den westlichen Interessen unterzuordnen und sich deren sogenannter regelbasierter Ordnung zu unterwerfen.
Die Völker der Welt bestehen auf der Gleichwertigkeit ihrer wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bedürfnisse und Interessen. Es zählen nicht mehr alleine die des Westens. Die internationale Ordnung ist im Wandel, auch wenn man das in Washington und Brüssel nicht wahrhaben will. Die westliche Vorherrschaft ist im Zerfallen begriffen. Die Welt will multipolar werden. Der westliche Exzeptionalismus, die Vorstellung eigener Überlegenheit, gehört der Vergangenheit an, da helfen keine Sanktionen, keine Regime-Changes und keine Kriege mehr.
Es ist ein neuer Geist eingezogen in der Welt. Die westlichen Traumfabriken können die Menschen immer weniger beeinflussen mit den Weltbildern, die sie zeichnen, und mit ihrer Propaganda gegenüber ihren Gegnern. Das Internet hat die Monopolstellung der westlichen Einflussnahme gebrochen. Übersetzungsprogramme machen den Menschen auf dem gesamten Erdball die Informationen, Meinungen und Weltbilder in allen Sprachen zugänglich, auch in den Sprachen der Gegner.
Den westlichen Medienmogulen sind mächtige Gegner erwachsen. Mächtig sind sie, weil sie überzeugendere Sichtweisen in die Welt tragen und die Vorgänge in der Welt verständlicher machen. Es sind nicht mehr alleine die Ansichten und Interessen des politischen Westens, die sich auf dem Planeten verbreiten. Der Einfluss von russischen und chinesischen Medien nimmt weltweit zu – zum Leidwesen westlicher Meinungsmacher. Die Verbreitung von Informationen, Erklärungen und Meinungen können nicht mehr nach ihren Interessen alleine gefiltert werden. Die Macht des Zweifels zersetzt Lügen und Manipulationen.
Zweifel alleine aber schaffen keine neue Welt. Das Kopfschütteln über die herrschenden Zustände bringt keine neue Orientierung. Der Zweifel zersetzt zwar die Lügen, aber er schafft kein neues politisches Bewusstsein. Doch ohne dieses führt der Zweifel in Verzweiflung, in Nihilismus, Häme und Gehässigkeit. Das ist die Fäulnis, die uns aus vielen Kommentarspalten auch der alternativen Medien entgegenweht. Man lehnt den Mainstream ab, man zweifelt an allem, was von dort kommt. Aber die Ablehnung metastasiert. Sie lässt auch nicht mehr an den guten Willen der meisten Menschen glauben, das Richtige tun zu wollen, und an ihren Wunsch, dem Menschen ein Freund zu sein.
Die Macht des Bewusstseins
Der Zweifel hat vieles zerfressen, wenig Gutes übrig gelassen und noch weniger Zukunftsweisendes geschaffen. Der Zweifel, so willkommen und unumgänglich er auch sein mag, darf also nur der erste Schritt sein, um Lüge von Wahrheit zu trennen, das Falsche vom Richtigen. Der zweite muss darin bestehen, zu benennen, was das Richtige ist. Das ist der schwierigere Teil der Bewusstwerdung. Dazu bedarf es keiner Visionen, wie so viele Propheten und Volkstribune glauben machen wollen, die meinen, sich selbst und ihrem Publikum eine Zukunft ausmalen zu können.
Um das richtig zu benennen, dazu bedarf es gerade des Gegenteils: Zu sagen, was ist, wie es Rosa Luxemburg einmal als die "revolutionärste Tat" bezeichnet hat. Es geht darum, die Wirklichkeit der Gegenwart deutlich zu machen, denn aus ihr heraus entsteht die Zukunft, nicht aus den Fantasien irgendwelcher Weissager. Wer zur Deutung der Gegenwart nicht in der Lage ist oder gar darin schon falschliegt, wie sollte der eine richtige Zukunft voraussagen können? Doch auch die Gegenwart wird nicht richtig verstehen, wer die Vergangenheit nicht berücksichtigt und die Gegenwart nicht als Ergebnis einer Entwicklung sieht.
Der Krieg in der Ukraine ist nicht zu verstehen, wenn man die Vorgeschichte nicht kennt oder gar ausblendet beziehungsweise umdeutet. Entwicklungen werden erst deutlich und verständlich, wenn sie in den Lauf der Geschichte und das Wirken von Interessen eingeordnet werden können. Die Zukunft ist aus der Gegenwart heraus nicht vorstellbar, wenn die Gegenwart aus der Vergangenheit herausgelöst und isoliert betrachtet wird. Entwicklung ist die Betrachtung der Gegenwart vor dem Hintergrund der Vergangenheit, verlängert in den Raum, der vor uns liegt.
Die Entwicklung des Menschen geht vom Tier zum Menschen und derzeit wissen wir noch nicht, wie weit er auf diesem Weg der Menschwerdung vorangeschritten ist. Aber in der meisten Zeit seiner Existenz war er mehr Tier als Mensch. Sein Leben bestand über die Jahrtausende aus Armut, Hunger und Schutzlosigkeit in einer feindlichen Umwelt. Er wurde Sammler, Jäger, Viehhirte und Ackerbauer, Handwerker und Wissenschaftler. Und mit jedem dieser Entwicklungsschritte überwand er einen Teil seiner Armut, seines Hungers und seiner Schutzlosigkeit, wurde immer mehr Mensch, dafür immer weniger Tier.
All diese Schritte waren auch verbunden mit dem Erwerb neuer Tätigkeiten und einem Bewusstsein, das über das eines Tieres hinausging. Er wurde sich seiner Fähigkeiten bewusst und setzte diese ein zur Verbesserung seiner Lebensumstände. Sie wurden Allgemeingut der gesamten Menschheit. Dieser Weg führte über verschiedene Gesellschaftsformen, die sich die Menschheit selbst schuf. Sie gestalteten das Zusammenleben untereinander und verbesserten das Leben der Menschheit allgemein, machten es sicherer, satter und auch länger.
In diesem Rückblick ist also erkennbar, dass der Mensch trotz aller Rückschritte wie dem Faschismus auf dem Weg ist in eine Zukunft, die sein Leben reicher und freier macht. Der Mensch ist auf dem Weg, jener Gott zu werden, von dem er über Jahrtausende dachte, dass er über sein Schicksal bestimmte. Dieser Gott aber ist nicht im Himmel zu suchen. Er ist in ihm selbst, in seiner eigenen Schaffenskraft, in seiner eigenen Genialität und in seiner Brüderlichkeit.
Auch wenn die blutigen Konflikte dieser Tage einen anderen Eindruck erwecken, so sind sie doch Bestandteil dieses Ringens, den die Menschheit seit Anbeginn ihrer Zeit mit sich selbst und ihrer Umwelt austrägt. Bei den derzeitigen Kämpfen geht es, wie die Chinesen sagen, um die Schicksalsgemeinschaft der Menschheit. Hier toben die Kämpfe um das Bewusstsein, dass allen Staaten und Gesellschaften das gleiche Recht auf eine Entwicklung zusteht nach den eigenen Wertmaßstäben, den eigenen Grundsätzen, den eigenen geschichtlichen und kulturellen Erfahrungen.
Da gibt es keine höheren und niedrigeren Rechte, keine wichtigeren und weniger bedeutenden Interessen. Alle Völker des Menschengeschlechts haben dieselben Anrechte auf ein Leben in Wohlstand und Würde und nicht nur die goldene Milliarde. Den Religionen ist das nicht gelungen, trotz ihrer Appelle an die Nächstenliebe. Auch der sowjetische Sozialismus scheiterte mit seiner Vorstellung von der Überwindung der Klassengesellschaft. Heute scheint die Zeit gekommen, mit der westlichen Vorherrschaft jegliche Vorherrschaft zu überwinden. Das ist es, worum es derzeit geht, und diesen Prozess zu unterstützen bedeutet, auf der richtigen Seite zu stehen.
Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog .
Quelle:
"Wenn Unrecht Gesetz wird,wird Rebellion Pflicht."
Der Klartexter
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