04.08.2024, 12:04
Deutschland malt sich freudig eine Zielscheibe auf den Rücken
4 Aug. 2024
Ging Olaf Scholz mit seiner Zustimmung zur Stationierung amerikanischer Raketen in seiner Unterwürfigkeit gegenüber Washington zu weit? Jedenfalls regt sich Widerspruch an unerwarteter Stelle – auch weil die Regierung die Entscheidung ohne Debatte durchsetzen will.
Scholz und Biden beim G7-Gipfel in Italien, 13. Juni 2024 - Quelle: © Michael Kappeler
Von Tarik Cyril Amar
Für eine Regierung ist es eine Sache, alleine schlechte Ideen zu haben, aber es ist viel schlimmer, die schlechten Ideen einer anderen Regierung umzusetzen – und zu Hause keine Debatte darüber zu tolerieren.
Und doch ist das genau das, was derzeit in Deutschland geschieht. Oder zumindest ist es das, was die unbeliebte Koalitionsregierung unter Bundeskanzler Olaf Scholz und ihre Handlanger in den Mainstream-Medien im Hinblick auf die geplante Stationierung von Mittelstreckenraketen zu erreichen versuchen.
Passend dazu – angesichts dessen, dass nach dem Angriff auf Nord Stream das sich gehorsam deindustrialisierende Berlin zu einem peinlich unterwürfigen amerikanischen Vasallen geworden ist, erfuhren die Deutschen, als Nebenvorstellung der jüngsten NATO-Vorführung, aus Washington, dass sie bald eine ganze neue Klasse amerikanischer Waffen dürfen. Ab 2026 sind diese sogenannten "weitreichenden Feuerfähigkeiten" angesetzt, die anfänglich aus - und -Raketen bestehen und später neue Hyperschallsysteme einschließen sollen.
Die Platzierung soll zuerst vorübergehen sein und dann dauerhaft werden. Sobald diese mit einer Reichweite von bis zu 2.500 Kilometern in Deutschland installiert sind, könnten sie das Herz Russlands bedrohen, Moskau inklusive, mit Angriffen, die nur etwa zehn Minuten vom Start bis zum Einschlag benötigen. Viele davon können nukleare wie auch konventionelle Sprengköpfe tragen. Da dadurch für Russland ein hohes Risiko entsteht, das die Planer dort als neue westliche Fähigkeit für Überraschungsangriffe sehen müssen, werden diese Stellungen Primärziele für die russischen Truppen.
Anders gesagt, die Entscheidung, derartige Waffen auf deutschem Boden zu stationieren, ist von höchster Wichtigkeit. Der russische Präsident Wladimir Putin nutzte die Gelegenheit des Tags der Marine – der zufällig auf eine berühmte Schlacht des Großen Nordischen Krieges zurückgeht, als Peter der Große den Rest Europas zwang, Russland als Großmacht anzuerkennen –, um die Dinge so klar wie möglich auszusprechen: Sollten die amerikanischen Pläne umgesetzt werden, werde mit einer erwidert werden. Moskau wird, mit anderen Worten, Deutschland, den willigen vorgelagerten Stützpunkt der Amerikaner, im Blick behalten.
Darüber hinaus sprach der russische Präsident – was häufig übersehen wird – von westlichen Waffen, also sowohl von spezifisch amerikanischen als auch von solchen, die Washingtons Satelliten gehören. Damit bezog er sich auf europäische , eigene Raketen für sogenannte "tiefe Präzisionsschläge" zu bauen.
Wie Sahra Wagenknecht, die Vorsitzende von Deutschlands neuer, aber bereits gedeihender Partei BSW richtigerweise , wird die Stationierung von Mittelstreckenraketen die Sicherheit des Landes nicht erhöhen, sondern sie "erhöht im Gegenteil die Gefahr, dass Deutschland selbst zum Kriegsschauplatz wird, mit furchtbaren Folgen für alle hier lebenden Menschen".
Und doch, nachdem die USA diese neue Eskalation im Stillen geplant haben, wurde die endgültige Entscheidung, sie umzusetzen, in faktisch zwischen amerikanischen und deutschen Regierungsvertretern getroffen (wenn "Gespräche" bedeutet, dass Berlin neue Befehle entgegennimmt) – und niemandem sonst.
Vergessen Sie den Gedanken, dass die deutschen Bürger informiert werden und ein Mitspracherecht haben sollten, ehe sie vor vollendete Tatsachen gestellt werden. Tatsächlich hat der deutsche Verteidigungsminister und NATO-Ultra Boris Pistorius auf dem Recht , eine "Exekutiventscheidung" zu treffen. Er ist sich dessen sicher nicht bewusst, wie ironisch das klingt: Im urbanen Slang Amerikas steht der Begriff für . Und die Wirklichkeit ist natürlich, dass Washington die Entscheidungen fällt und Berlin sich um die Umsetzung kümmert.
Wagenknecht hat außerdem Verhandlungen über ein Ende des Krieges in der Ukraine gefordert, und, ganz allgemein, eine Regierung, "die die existenziellen Interessen unseres Landes vertritt, statt willfährig die Wünsche der Vereinigten Staaten umzusetzen, die von den Folgen eines großen europäischen Krieges nicht direkt betroffen wären".
Mit beiden Punkten hat sie recht. Aber solange Scholz' Koalition an der Macht bleibt, sind die Aussichten für so viel Vernunft und nationale Selbstbehauptung schlecht.
In gewisser Weise ist es keine Überraschung, wie den Deutschen neue Raketen und Gefahren aufgedrängt werden. Diese Art von Verhalten ist im gesamten Westen inzwischen Routine, weil es wirklich funktioniert. Ob es um den Krieg in der Ukraine geht, den israelischen Genozid in Gaza oder die Frage, wie man auf den friedlichen Aufstieg Chinas reagieren soll – wenn es ein starkes Signal dafür gibt, dass ein Thema wirklich wichtig ist, dann, dass nicht erlaubt wird, eine abweichende Meinung dazu zu haben oder zumindest, sie zu veröffentlichen.
Und doch gibt es etwas Besonderes bei diesem neuen Plan für Mittelstreckenraketen. Er rückt die Berliner Gewohnheit, Debatten vorwegzugreifen und sie zu verhindern, während der Verantwortung ausgewichen wird, besonders ins Licht. Wie es Helmut W. Ganser, ein deutscher General a.D., der hohe Positionen im Verteidigungsministerium wie in der NATO innegehabt hatte, betonte, ist das eine Politik mit "schwerwiegenden" Folgen, die einer "umfassenden Rechtfertigung" bedarf.
Aber nichts dieser Art wurde geliefert. Ein Dokument, das das Verteidigungs- und das Außenministerium für den Bundestag , ist eine Formalität, angefüllt mit plappernden Klischees über das große, böse Russland, und die gute, unschuldige NATO, die nichts als etwas mehr "Abschreckung" wolle.
Gleichzeitig bringt das Thema der Mittelstreckenraketen ebenfalls ans Licht, dass trotz allem die Fähigkeit Berlins, Kritik zu unterdrücken, an Grenzen stoßen könnte. Als einzelnes, verständliches und klar alarmierendes Thema könnte die Stationierung von Mittelstreckenraketen das Potenzial haben, einen Widerstand hervorzurufen, der über ein paar unzufriedene Stimmen in den sozialen Netzwerken hinausgeht. Es gibt bereits Anzeichen, dass Scholz einen taktischen Fehler begangen hat, als er diese gefährliche Politik mit demonstrativer Überheblichkeit einleitete.
In Scholz' eigener Partei, der SPD, gab es öffentlichen Widerspruch. In einem viel beachteten Interview Fraktionschef Rolf Mützenich, Deutschland brauche diese neuen Waffensysteme nicht; zudem erhöhten sie nur die Gefahr einer "unbeabsichtigten militärischen Eskalation". Mützenich fragte außerdem, warum nur Deutschland eine Basis für diese Raketen werden soll, und merkte spitz an, das stimme nicht mit seiner Vorstellung einer Lastenverteilung in der NATO überein.
Andere Mitglieder der SPD-Führung haben sich dem Rebellen angeschlossen. In einer haben die Mitglieder des Erhard-Eppler-Kreises – benannt nach einer Schlüsselfigur der starken pazifistischen Welle, die in den 1980ern durch eine vergleichbare US-Raketenstationierung ausgelöst worden war – gewarnt, die Gefahr, die mit den neuen Waffen verbunden sei, nicht zu unterschätzen. Sie haben auch die Voreingenommenheit und das Schweigen der Führung unter Scholz kritisiert. Die SPD-Rebellen erheben auch – was einem Kanzler, dem nur seine Beliebtheit in den USA wichtig zu sein scheint – den Anspruch, Mützenichs – und ihre – Position stehe für das, was viele einfache Parteimitglieder denken.
Die Gegner und Kritiker dieser neuen Politik haben klar sowohl mit dem Inhalt dieser neuen Politik als auch mit der Weise, wie sie von oben verordnet wurde, im Stil der "Exekutiventscheidung", wie Pistorius' unbeholfener und verräterisch autoritärer Begriff lautete, ein Problem. Dabei, das ist wichtig festzustellen, lehnen sie üblicherweise nicht einmal die Behauptung ab, dass Deutschland mehr in sein Militär investieren müsse. In dieser Hinsicht gestehen sie, zum Besseren oder zum Schlechteren, überwiegend, dass sie ebenfalls glauben, die "russische Aggression" zwinge den Westen dazu, sich wieder mehr der Abschreckung zu widmen. Aber das macht es Berlin eher schwerer, mit ihnen umzugehen, weil man ihnen schlecht den Mund verbieten oder sie als naive Pazifisten oder Russophile karikieren kann. Auch ihr Argument, dass dem Setzen auf mehr Raketen kein gleichzeitiges Angebot für Gespräche und die Suche nach Kompromissen gegenübersteht, ist ein weiterer Faktor, der es schwer macht, die Kritiker beiseitezuschieben.
Offizielle und Mainstream-Medien in Deutschland wurden völlig konformistisch und unterwürfig, bewegen sich im Gleichschritt mit Washington und sind durchdrungen von vereinfachenden, selbstgefälligen Narrativen, die den Westen idealisieren und seine Gegner dämonisieren, insbesondere Russland. Diplomatie wird zum "Appeasement" verzerrt, und ein einseitiges Setzen auf militärische Lösungen als "Realismus" präsentiert. Und doch ist es möglich, dass die Regierung Scholz diesmal überreizt hat. Es scheint zumindest ein Potenzial zu geben, die Frage der Mittelstreckenraketen in einen Katalysator zu verwandeln, der im besten Falle dabei hilft, ein breiteres politisches und soziales Bündnis jener zu schmieden, die eine Rückkehr zur Diplomatie wollen, um den Krieg in der Ukraine zu beenden, die unzufrieden mit der erniedrigenden und schädlichen Unterordnung unter US-Interessen sind, und schließlich jenen, die im Allgemeinen die momentane Orthodoxie eines neuen Kalten Krieges herausfordern wollen.
Übersetzt aus dem .
Tarik Cyril Amar ist Historiker an der Koç-Universität in Istanbul. Er befasst sich mit Russland, der Ukraine und Osteuropa, der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, dem kulturellen Kalten Krieg und der Erinnerungspolitik. Man findet ihn auf X unter .
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Wie die USA zum gemeingefährlichen Idioten wurden
3 Aug. 2024
Zusammen mit seinem Verbündeten in London spielt Washington nach seinen eigenen Regeln. Eine Wahrnehmung der Interessen anderer ist geradezu unmöglich. Die Gründe dafür liegen nicht nur in der Geografie, sondern auch in der Vergangenheit.
Symbolbild - Quelle: © Simone Brandt
Von Timofei Bordatschew
Im Verlauf der vergangenen Wochen war die Beschäftigung der Medien mit dem Spektakel, das die US-Präsidentschaftswahlen darstellen, unerbittlich. Die verheerende Debatte des amtierenden Präsidenten Joe Biden mit seinem Gegner von den Republikanern, Donald Trump; dann der Attentatsversuch, den Letzterer geradezu wunderbarerweise überlebt hat; die Kür von Trumps Vizepräsidentschaftskandidaten; und schließlich der Kandidatenwechsel der regierenden Demokraten. Im Ergebnis hat Vizepräsidentin Kamala Harris – die sich noch in keiner Hinsicht bewiesen hat – das Kampffeld betreten.
Dieses ganze Durcheinander wird von einer ungeheuren Menge widersprüchlicher Informationen und Meinungen begleitet, die großzügig über dem allgemeinen Publikum versprüht werden und emotional wirken wie eine Schaukel. In gewisser Hinsicht sind selbst Beobachter in anderen Ländern in Gefahr, von der Raserei angesteckt zu werden.
Russland ist ebenfalls gewohnt, genau auf die politischen Kämpfe im Westen zu achten. Diese Gewohnheit ist schon lange ein Teil unserer politischen Kultur – der russische Staat wurde vor allem aus außenpolitischer Notwendigkeit geschaffen. Ich würde es jedoch lieber sehen, wenn diese Tradition auf der Ebene reiner Neugier verbleibt und nicht Erwartungen zu dem einen oder anderen Ergebnis der inneren Kämpfe der USA weckt.
Es scheint, als wäre es für Russland und seine Interessen weit wichtiger, eine genaue Wahrnehmung der Ereignisse zu haben und zu wissen, mit wem wir es in der globalen Arena zu tun haben. Das bedeutet zuallererst, dass wir das ganze US-Spektakel mit einem gewissen Humor betrachten sollten. Gleich, wer letztlich das Steuerruder des amerikanischen Staates übernimmt, werden Russlands Interessen durch seine militärischen Fähigkeiten und seine Stellung in der Weltwirtschaft gesichert. Nur das zählt bei unseren Gegnern, wenn es um eine diplomatische Lösung für den momentanen Verfall der Beziehungen zwischen Moskau und dem Westen geht.
Zweitens ist es nötig, anzuerkennen, dass wir es mit einer einzigartigen politischen Kultur zu tun haben – einem System, in dem der einzige Zweck politischer Aktivität in der Manipulation der gewöhnlichen Bürger durch die Elite besteht, die sie nur betreibt, um ihre eigenen egoistischen Wünsche zu erfüllen. Darum blieben die britische und die amerikanische Gesellschaft über Jahrhunderte statisch, darum denkt die Bevölkerung nicht einmal daran, die bestehende Ordnung durch entschiedenes Handeln zu ändern.
Anders gesagt, um an der Macht zu bleiben, müssen amerikanische und britische Politiker nur ihre Wähler narren und sonst nichts tun; ihre Bürger trotten ihnen dennoch hinterher. Das macht beide Mächte zu gefährlichen Gegnern, denn die Menschen dort sind es gewohnt, ihren Herrschern selbst bei den verrücktesten Unternehmungen zu gehorchen.
Dieses Modell wurde im Verlauf mehrerer Jahrhunderte in Großbritannien geschaffen, einem Land, in dem es seit dem Ende des 14. Jahrhunderts keinen einzigen wirklichen sozialen Massenprotest gegen den Status quo gab. Jahrhundertelang haben die Engländer eine unglaubliche Zahl an Parasiten auf ihren Schultern getragen, von der königlichen Familie bis zu den großen Kapitalisten der Moderne. Erst in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts wurden vernünftige Sozialleistungen in Großbritannien eingeführt, und in den vergangenen Jahrzehnten haben die Eliten daran gearbeitet, sie zu schleifen. Währenddessen sind all die Jahrhunderte hindurch die gewöhnlichen Briten folgsam in den Krieg gezogen, wohin auch immer ihre sozial Bessergestellten sie schickten – ohne allzu viel als Gegenleistung zu erhalten.
Wir erinnern uns, wie trostlos das Leben der Veteranen auf dem Höhepunkt des britischen Empire war, wie sie sein Meisterdichter, Rudyard Kipling, beschrieb. Die Magna Charta der Freiheiten – die die Propaganda oft als erste Verfassung präsentiert – ist tatsächlich ein Vertrag zwischen dem König und der Aristokratie und hat nichts mit dem gemeinen Volk und seinen Rechten zu tun. Die Geografie der Insel selbst fördert ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Resignation.
Seit dem 17. Jahrhundert entflohen Millionen Engländer und Schotten aus ihrer elenden Lage nach Nordamerika. Aber die politische Kultur, die über Jahrhunderte entwickelt wurde, erwies sich als stark und widerstandsfähig. Daher wurde, als die USA erschienen, das britische System mit einigen kleineren Veränderungen reproduziert. Sie beruhen auf der Entwicklung radikaler Formen des Individualismus unter den Bürgern, die dazu führen, dass andere nur als Konkurrenten wahrgenommen werden. Es ist kein Zufall, dass die USA auf der internationalen Bühne alle Länder der Welt entweder als aktive oder als mögliche Konkurrenten sehen. Das ist ein System, in dem es keine Freunde oder Verbündete gibt, sondern nur Konkurrenten oder Untergebene. Es gibt keinen Raum, die Interessen und Werte anderer zu berücksichtigen.
Eine Gesellschaft von Individualisten ist extrem leicht auf Grundlage simpler Algorithmen zu leiten. Es reicht, den Bürger ständig seiner Einzigartigkeit und seiner Fähigkeit, jedes Problem unabhängig zu lösen, zu vergewissern.
Ein Individualist ist leicht zu manipulieren. Er wird seine Nachbarn nicht um Rat fragen und muss stets unabhängige Entscheidungen treffen. Die praktische Aufgabe von Politikern sowohl in Großbritannien als auch in den USA besteht daher darin, beständig daran zu arbeiten, dass die Bürger nicht einmal auf den Gedanken kommen, der Staat oder die Gesellschaft hätten ihnen gegenüber irgendeine Verantwortung.
Und wenn der Staat keine Verantwortung hat, dann gibt es keinen Weg, die Eliten zu ersetzen, die Macht und Reichtum über Jahrhunderte an ihre Nachfahren weitergereicht haben. Es wäre extrem naiv, zu denken, dass neue Gesichter, die an die Macht kommen, imstande wären, irgendetwas an der großen Politik in den USA zu ändern – natürlich eingeschlossen die grundlegenden Aspekte der Beziehungen zwischen den USA und der Außenwelt. In einem System, in dem alles getan wird, um die Macht über die Bevölkerung zu erhalten, ist Außenpolitik in jeder Hinsicht zweitrangig.
Außerdem sind die USA, wie Großbritannien, ein Land, dessen geopolitische Stellung die Gelegenheiten zu sozialer Interaktion mit anderen dramatisch verringert. In Russland ist die Lage beispielsweise das genaue Gegenteil – wir haben viele Nachbarn, und die Außenpolitik nimmt auf der Liste der staatlichen Pflichten einen bedeutenden Platz ein.
Die Kombination aus einer einzigartigen Stellung auf der Weltkarte und den Besonderheiten der heimischen politischen Ordnungen machen die Amerikaner und ihre britischen Verwandten zu sehr ungewöhnlichen Teilnehmern des internationalen Lebens. Ihre schwache Fähigkeit, in einem Kollektiv zu kommunizieren, führt dazu, dass sie sich ausgegrenzt verhalten und nur auf Gewalt setzen. Dies entspricht voll und ganz der ursprünglichen Bedeutung von "rogue actor" (auf Deutsch etwa: "böswilliger Akteur", "Schurke"), also einer Person, die isoliert von der Gesellschaft lebt und sich nicht an der Formulierung der gesellschaftlichen Regeln beteiligt.
Die politische Kultur der USA und Großbritanniens lässt sehr wenig Raum für Kompromisse mit anderen. Und das ist für die Welt ein größeres Problem, das nur teilweise und ausschließlich mit diplomatischen Mitteln bearbeitet werden kann. Ein gemeinsames Heim (eine internationale Ordnung) mit jenen zu bauen, die dazu völlig unfähig sind, ist ein hoffnungsloses Unterfangen. Jede Übereinkunft wird vorübergehend sein und von ihnen gemäß ihrer Innenpolitik verändert werden.
Der einzige Weg, für Russland, China und die Masse der anderen Staaten auf diesem Planeten eine gemeinsame Zukunft zu planen, ist, diese schwierigen Partner auf verschiedene Weisen einzuhegen. Und darauf zu setzen, dass eine solche Einhegung in den USA und in Großbritannien zu einer angemesseneren Wahrnehmung führen wird.
Übersetzt aus dem .
Timofei Bordatschew ist Programmdirektor des Waldai-Clubs.
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Träumerei in olivgrün – Ein Kongressbericht und die Wirklichkeit
3 Aug. 2024
Irgendwie muss es doch gehen, die globale Macht zu halten, auch wenn man eingestehen muss, dass das militärisch gerade nicht klappt. Der Bericht der US-Kommission zur nationalen Verteidigungsstrategie gibt sich jedenfalls viel Mühe mit Vorschlägen. Nur nützen sie nichts.
Symbolbild - Quelle: © IMAGO/Andreas Beil
Von Dagmar Henn
Im Grunde ist der Bericht der Kongresskommission zur nationalen Verteidigungsstrategie ein Dokument des Scheiterns. Wenn man die Zustandsbeschreibung und die Maßnahmen liest, wird klar, dass man daraus eigentlich die Konsequenz ziehen müsste, das mit der Aufrechterhaltung des US-Imperiums einfach zu lassen. Nur der tiefe Glaube an die "Unverzichtbarkeit" der USA dürfte die Autoren von genau dieser Schlussfolgerung abgehalten haben.
Abgesehen von einigen kurzen Passagen, in denen die bekannte Propaganda über das "Scheitern" der russischen Armee im Frühjahr 2022 wiederholt wird, sowie die übliche Geschichte, nach der die Einnahme von Kiew geplant gewesen sei, und der Behauptung hoher russischer Verluste ist das Papier nämlich von reichlich bitterem Realismus geprägt. Ein kleiner Satz könnte, stünde er allein, sogar Hoffnung auf eine Einsicht machen:
"Militärische Stärke sollte nicht das Werkzeug einer ersten Antwort sein, wenn ein Problem auch mit Diplomatie und anderen Mitteln nationaler Macht angegangen werden kann."
Aber so ist das nicht wirklich gemeint; stattdessen wird versucht, eine Lösung einer im Grunde aussichtslosen Lage zu finden.
"Kriegsspiele ohne Geheimhaltung legen nahe, dass die Vereinigten Staaten in einem Konflikt mit China ihre Munitionsbestände weitgehend in nicht mehr als drei bis vier Wochen erschöpfen würden, wobei es bei einigen Arten der Munition (z. B. Anti-Schiffs-Raketen) nur einige Tage dauern würde. Sobald sie verbraucht sind, würde der Ersatz für diese Bestände Jahre beanspruchen."
Das klingt wirklich wie eine Ermutigung, mit Taiwan weiter zu provozieren, oder? Übrigens, die Waffen, die dorthin verkauft wurden, als Teil der stetigen Provokationen in Richtung Peking, sollen nach diesem Bericht auch ein paar Jahre länger brauchen, bis sie geliefert werden können. Da hilft es gar nichts, dass so getan wird, als sei Taiwan kein Teil Chinas. Aber bezogen auf China steht da etwas noch viel Schlimmeres: "Wenn diese Entwicklung weitergeht, wird die Volksbefreiungsarmee ein gleichwertiger, wenn nicht gar überlegener, militärischer Konkurrent der Vereinigten Staaten auf allen Gebieten sein, eine Lage, der sich die Vereinigten Staaten zuletzt am Höhepunkt des Kalten Krieges gegenübersahen."
Dann gibt es noch eine bittere Erkenntnis, auch wenn sie nicht ausführlicher dargestellt wird: "Eine der größten Veränderungen in der Bedrohung der Vereinigten Staaten ist die Gefahr von Angriffen gegen die USA selbst." Ja, die goldenen Zeiten, in denen man sich auf die relative Insellage verlassen konnte, sind vorüber. Nur redet man nicht gerne darüber.
Allerdings sind die inneren Probleme noch weit schwerwiegender als das Scheitern der Versuche, Bündnisse zwischen den möglichen Gegnern (im Kern den ökonomischen Konkurrenten, zumindest jenen, die man nicht an der Leine halten kann wie Deutschland) zu verhindern. Man müsse damit rechnen, es mit allen auf einmal zu tun zu bekommen, Russland, China, Nordkorea und Iran, wenn man seine Nase zu tief in einen der Konflikte steckt, die man überall angefacht hat. Das ist definitiv zu viel. Der Bericht vergleicht die Anforderungen, die ein Erhalt der Vormacht stellen könnte, mit dem Zweiten Weltkrieg.
Und konstatiert gleichzeitig, dass die Voraussetzungen, die damals vorhanden waren, es heute nicht mehr sind. Dass beispielsweise der Rückstau selbst bei Reparaturen der Kriegsschiffe enorm ist und Abgänge nicht mehr ersetzt werden können, ganz zu schweigen von der Vergrößerung der Flotte, die die Berichterstatter gerne sähen, weil China jetzt schon mehr Schiffe hat als die USA. Hier lautet der Vorschlag, künftig zumindest einen Teil der Schiffe in anderen Ländern bauen zu lassen; immerhin. Auf der Liste der größten Schiffsbaunationen liegt Südkorea mit einer gewichteten Bruttoraumzahl (CGT) von 17,7 Millionen gleich hinter China mit 20,3 Millionen. Aber schon die Nummer drei, Japan, baut nur noch 3,7 Millionen CGT, die Nummer vier, die Philippinen, 0,47 CGT. Und von da an geht es über Vietnam mit 0,39 CGT, Russland mit 0,77 CGT, die Türkei mit 0,22 CGT, Deutschland mit 0,117 CGT, die Niederlande mit 0,116 CGT immer weiter abwärts. Die USA hatten 2023 übrigens Schiffsbauaufträge im Umfang von 0,05 Millionen CGT.
Genau das ist ein Beispiel für die Aussage, man könne eben nicht mehr wie im Zweiten Weltkrieg zivile Produktion auf militärische umstellen, weil die zivile schlicht nicht mehr vorhanden ist. Soll also nun Südkorea Kriegsschiffe für die USA bauen? Hätten die Südkoreaner wirklich Interesse daran, wenn das gleich von mehreren Nachbarn als Provokation gewertet werden könnte?
Wenn man die Aussagen des Berichts über das Verhältnis zwischen Rüstungsindustrie und dem US-Verteidigungsministerium liest, kommt es einem fast so vor, als drücke sich darin ein gewisser Ekel aus. "Byzantinische Praktiken" nennt man jedenfalls nichts, von dem man viel hält. Es wird alles bestätigt, was man in den wenigen einigermaßen ehrlichen Analysen (wie von der britischen Denkfabrik RUSI vor bereits zwei Jahren in "The return of industrial warfare") lesen konnte – das Zeug, das da produziert wird, ist extrem überteuert und nicht wirklich gut. Stattdessen sorgten die großen Rüstungsunternehmen aber erfolgreich dafür, kleinere Konkurrenz vom Markt zu verdrängen und sich jeweils das Monopol für bestimmte Erzeugnisse zu sichern. Wenn Lockheed keine Patriot-Raketen bauen kann, dann gibt es eben keine.
Ein weiterer Punkt, bei dem der Bericht vorsichtig um die wirkliche Lage herumlaviert, ist die Frage des Personals. Auch das wurde bereits vielfach berichtet, dass das US-Militär Probleme hat, seine Rekrutierungsziele zu erreichen. Allerdings, auch wenn alle möglichen kleinen Tricks aufgezählt werden, wie man das Angebot verbessern könnte (so etwas wie eine Jobgarantie nach Vertragsende beispielsweise, oder Arbeitsplätze für die Ehefrauen der Soldaten), angesichts der Vorstellung, man müsse mit einem Krieg im Format des Zweiten Weltkriegs klarkommen, taucht dann doch das eine giftige Wort auf, wenn auch geradezu geflüstert: Einberufung. Das US-Militär müsse Pläne für eine mögliche Einberufung machen.
Ein Punkt, der in der US-Gesellschaft ausgesprochen heikel ist. Die letzten größeren Verluste erlitten die USA im Vietnamkrieg, mit 58.220 Soldaten; die Berechnungen für einen Konflikt mit einem gleich starken Gegner liegen aber eher bei 30.000 Mann im Monat. Weshalb betont wird, man müsse die Gesellschaft auf einen derartigen Konflikt vorbereiten. Betonen, welche Folgen es für die Bevölkerung hätte, wenn die Machtstellung der USA verloren ginge. Inzwischen sorgt sich sogar jeder dritte US-Amerikaner mit einem Jahreseinkommen von mehr als 150.000 US-Dollar darum, ob er noch seine Rechnungen bezahlen kann … ob es unter diesen Voraussetzungen gelingt, die Bevölkerung tatsächlich von einer direkten US-Beteiligung an einem verlustreichen, großen Krieg zu überzeugen?
Die europäischen Verbündeten, die mit ihrer Industrie das Rüstungsproblem lösen helfen sollen, sollen mit dauerhaften Stationierungen von US-Truppen bei der Stange gehalten werden. Die Regierung Biden wird in diesem Bericht sogar ausdrücklich dafür gelobt, was sie für ein engeres Bündnis getan hat. Steht das Sprengen von Pipelines auch auf der Liste? Welche möglicherweise unerwarteten Effekte da noch eintreten könnten, wird jedenfalls in dem Bericht nicht wahrgenommen.
Die technisch und personell heruntergekommenen Streitkräfte benötigen jedenfalls massive Unterstützung, sollen sie die ihnen zugeschriebene Aufgabe wahrnehmen können – bis hin zu Bildungsprogrammen. Schließlich sind, auch das wird erwähnt, immer weniger junge Leute tauglich, entweder, weil die Bildung zu schlecht ist, oder weil sie nicht fit genug sind.
Das erinnert ein klein wenig an den Grund, warum im England des 19. Jahrhunderts einmal die Kinderarbeit verboten wurde. Nicht aus irgendwelchen sozialen Gründen, sondern weil die Rekruten immer kleiner wurden. Es ist also eigentlich eine altbekannte Weisheit, dass ein Imperium für die Teile der Bevölkerung, aus der es seine Armee rekrutieren will, gewisse soziale Mindeststandards einhalten muss.
Eine Umgestaltung der Rüstungsindustrie mit einer Produktionsausweitung, die mit Russland oder gar dem Industriegiganten China mithalten kann, das geht ins Geld. Am liebsten sähen die Berichterstatter den Militärhaushalt der USA auf den Höhen des Koreakrieges, bei mehr als 16 Prozent des GDP. Aber sie gehen auch gleich in die Falle ihrer eigenen Ideologie: "Höhere Sicherheitsausgaben sollten von zusätzlichen Steuern und Reformen bei den Sozialausgaben begleitet werden." Reform, das wissen längst auch die Deutschen, übersetzt sich mit Kürzung. Da wird aber kein Schuh draus, wenn man gleichzeitig die Bildung verbessern muss, damit man auch die Facharbeiter für die Rüstungsbetriebe ausbilden kann, und ansonsten ein Land liefert, das dem gemeinen Volk genug Zukunft bietet, dass es sich in den Krieg schicken ließe, also mehr als Zeltstädte, McJobs und Trailerparks.
Es ist sicher witzig, sich vorzustellen, wie im Interesse der Erhaltung des Imperiums der Kampf mit dem militärisch-industriellen Komplex aufgenommen werden soll, der den Kongress mindestens ebenso gut in der Tasche hat wie die proisraelische Lobbyorganisation AIPAC. Und wenn es um die Finanzierung des gigantischen Militärapparats geht, der den Autoren vorschwebt, gibt es noch das besondere Zuckerl, dass explizit auf die über 70 Prozent Spitzensteuersatz und die durchschnittlich 50 Prozent Unternehmenssteuern verwiesen wird. Das ist historisch richtig; genaugenommen lag der Spitzensteuersatz bis Nixon sogar bei 95 Prozent. Aber wer soll das derzeit in den Vereinigten Staaten durchsetzen, bei einer Politikerkaste, die es gewohnt ist, vor Oligarchen und der Wall Street zu liebedienern?
Das ist der Aspekt, der diesem Bericht eine ungeheure Komik verleiht: Denn letzten Endes bedeutet das, was sie für erforderlich halten, die ganze neoliberale Politik rückabzuwickeln. Was gleichzeitig heißen würde, dass der künstlich aufgeblasene Finanzmarkt auf Entzug gesetzt wird. Dazu kommt noch, dass die gigantischen Staatsschulden es ausgesprochen schwer machen, so enorme Ausgaben im Haushalt unterzubringen, selbst mit Steuern auf der Höhe von Roosevelts New Deal, ganz zu schweigen davon, dass ein Verlust der dominanten Position des US-Dollars weitere Verschuldung ausgesprochen schwierig macht.
Zu Zeiten von Roosevelt gab es ausgesprochen starke Gewerkschaften in den damals vorhandenen großen Fabriken, die bei der Durchsetzung der Besteuerung, direkt oder indirekt, eine große Hilfe waren. Ohne die Schritte des New Deal wäre die Finanzierung der US-Armee im Zweiten Weltkrieg ausgesprochen schwierig geworden; die hohe Besteuerung musste nicht gleichzeitig mit der politischen Entscheidung zum Kriegseintritt durchgesetzt werden, die war schon gesetzt. Aber heute? Sicher, die Oligarchen haben ein großes Interesse daran, die US-Dominanz zu halten, doch ihr Interesse, dafür zu zahlen, hält sich in sehr engen Grenzen.
Letzten Endes verkauft der Bericht nur eine Utopie. Wenn man an diese "Unverzichtbarkeit" glaubt, sind die vorgeschlagenen Schritte durchaus logisch. Aber wie das Problem mit der Rüstungsproduktion im Kleinen zeigt, so ist es auch bei all den Punkten, die die gesamte Gesellschaft betreffen – die gleichen Gründe, die den ökonomischen Drang zum Krieg erzeugen, sorgen auch dafür, dass die nötigen Maßnahmen unmöglich geworden sind. Und der Glaube an die "Unverzichtbarkeit", gleich, ob im Kongress in Washington oder bei den europäischen Vasallen, ändert rein gar nichts an diesen Gegebenheiten.
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"Wenn Unrecht Gesetz wird,wird Rebellion Pflicht."
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