06.10.2022, 23:29
Interkontinentalraketen bei einer Militärparade in Moskau. (Archivbild).
Von HANS-PETER KIMMERLE* | Es ist erstaunlich, wieviele „Militärexperten“ in den verschiedenen Leserforen der Medien quer durch die Republik sich zu Wort melden und beflügelt von den Erfolgen der ukrainischen Gegenoffensive mit der Lieferung von schweren Waffen, Geld und Moral, Putin vollends den Rest geben wollen. Der bisherige Verlauf des Krieges zeigt aber, und daran ändert auch die offensichtliche Fehleinschätzung Putins über den Verlauf seiner „Spezialoperation“ nichts, dass die Zündschnur hin zum Flächenbrand immer kürzer und die Verwirrung bei Politikern und weiten Teilen der aufgeputschten Bevölkerung immer größer wird.
Inzwischen befindet sich die Eskalationsspirale auf einem Level, auf dem wie selbstverständlich über den Einsatz von Atomwaffen diskutiert wird, als ob Ursula von der Leyen mit ihrer EU-Kommission auch dieses Problem sozusagen aus dem Handgelenk in den Griff bekommen wird. Die militärische Lage in Europa ist für die Europäer und besonders für die Bundesrepublik, die nach und nach in den Part einer Kriegspartei hineinschlittert ohne es zu wollen, brandgefährlich.
Als Wehrpflichtiger (Jahrgang 1940) und Offizier der Reserve in spe (die Ausbildung von Wehrpflichtigen zum Offizier der Reserve beruhte auf freiwilliger Basis) war ich 1960 als Zugführer eines Sicherungszuges beim Raketen-Artillerie-Bataillon 240 in Ingolstadt als Soldat stationiert. Das Bataillon war ausgerüstet mit der Kurzstreckenrakete Honest John, Reichweite ca. 40 Km, und vorgesehen für den Einsatz mit sogenannten taktischen Atomsprengköpfen auf dem möglichen Gefechtsfeld des süddeutschen Raumes oder auch im territorialen Bereich des Warschauer Paktes, je nach Kriegslage.
Das amerikanische Detachement, das die Atomsprengköpfe in Hepberg nahe von Ingolstadt lagerte, die Bundewehr durfte keine Atomwaffen besitzen, befand sich in unserer Kaserne in Ingolstadt. Als halbwegs sprachkundiger Soldat (englisch) hatte ich das Vergnügen, den Kommandeur des amerikanischen Detachements bei seinen Dienstreisen zu den deutschen Divisionsstäben in Süddeutschland zu begleiten. Ich verrate kein Dienstgeheimnis, denn das Raketenbataillon 240 und das amerikanische Detachement gibt es schon längst nicht mehr.
Jedenfalls war die Bundeswehr damals in der Lage, auf einen atomaren Einsatz der Warschauer-Pakttruppen auf dem Gefechtsfeld eine entsprechende Antwort zu geben. NATO als auch Warschauer Pakt wussten von der gegenseitigen Fähigkeit, was den Einsatz von taktischen Atomwaffen angeht. Zur Zeit des Kalten Krieges bestand auf dem Gefechtsfeld ein atomares Patt, so wie es im strategischen Bereich mit Langstreckenraketen der Fall war. Dieses Faktum ließ die militärische Führung der Bundeswehr und uns Soldaten damals etwas ruhiger schlafen als unsere Nachfolger in der heutigen Zeit.
Für die Ukraine und seine europäischen Unterstützer ist die Situation mit Blick auf die eigenen Antworten bei einem atomaren Waffeneinsatz Russlands überaus misslich. Putin hat auf diesem Gebiet zur Zeit das bessere Blatt. Es ist so. Wir können das beklagen, mehr geht nicht. Ob Putin den atomaren Trumpf zieht, weiß auch die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann nicht, die übrigens Putin für einen Hütchenspieler hält.
Die Bundeswehr steht nach den Aussagen des Inspekteurs des Heeres „blank“ da. Ob die osteuropäischen NATO-Staaten (Polen, Rumänien, Ungarn, Baltikum usw.) inzwischen mit taktischen Atomwaffen ausgerüstet sind oder werden, entzieht sich unserer Kenntnis. Und selbst wenn sie es wären, der Einsatz von westlichen taktischen Atomwaffen auf dem Gefechtsfeld fände in der Ukraine statt und das ist sicher keine militärische Option, weder für die Ukraine noch für seine westlichen Nachbarn, und käme dem Ritt auf einer Rasierklinge gleich.
Einen Krieg kann man im Frieden planen. Sobald er läuft, läuft er in der Regel aus dem Ruder. Ein dezenter Hinweis auf Afghanistan, Syrien sei mir hier erlaubt. Stellen wir uns vor, bei einem westlichen taktischen Atomwaffeneinsatz auf dem Gefechtsfeld landet zufällig oder gezielt ein Sprengkopf auf russischem Territorium. Die Frage stellt sich, ob Putin als Reaktion darauf einen atomaren Erstschlag mit strategischen Atomwaffen riskieren könnte und wenn ja, gegen wen. Ein Erstschlag gegen die USA scheidet aus, weil die USA Zweitschlagsfähigkeit besitzen und Russland im Gegenzug auslöschen würde. In Betracht zu ziehen ist allerdings eine Erstschlagsreaktion auf Regionen unterstützender Europäer, da Europa über kein mit den Großmächten USA, China und Russland vergleichbares atomares Potential verfügt. Lediglich Frankreich und England sind jeweils auf nationaler Ebene überschaubare Atommächte.
Bei einem russischen Erstschlag auf Europa bleiben die amerikanischen Hände im Schoß, denn für die USA bedeutet ein atomarer Gegenschlag gegen das russische Territorium ein unkalkulierbares Risiko, das kein amerikanischer Präsident einzugehen bereit sein wird, denn auch Russland verfügt über Zweitschlagsfähigkeit. Da gilt „America first“. Diese ehemalige Militärdoktrin aus der Zeit des kalten Krieges dürfte noch heute bei den Amerikanern Gültigkeit besitzen.
Nüchtern betrachtet hat sich der Ukrainekrieg als eine geopolitisch-militärische Auseinandersetzung zwischen den Großmächten USA und Russland, die zu unserem Unglück auf europäischem Boden stattfindet, entpuppt. Egal wie sich die Europäer mit den sogenannten westlichen Werten moralisch aufpumpen: Sie sind bereits jetzt die Verlierer, und zu den Europäern gehören sowohl die Ukrainer als auch die Russen. Leider hat die heutige europäische Politikergeneration keine Lehren aus dem ersten und zweiten Weltkrieg gezogen. Für mich als Kriegskind, Halbwaise, mit fünf Jahren am Ende des Krieges in einen zehntägigen Bombenhagel geraten, eine bittere Erkenntnis.
Sahra Wagenknecht (Die Linke) und Alice Weidel (AfD) treten bekanntlich für ein Ende dieses Krieges und für eine Verhandlungslösung ein. Sie sind einsame Ruferinnen in der Wüste, während die Phalanx der deutschen Politiker geschlossen „Putin ruinieren“ (Originalton Baerbock) und mit „unverminderter Kraft“ (Originalton Scholz) den Krieg in der Ukraine mit Geld und Waffen am laufen halten wollen. Dem eigenen Volk wird unverblümt zugemutet, die Zeche hierfür ohne Murren zu bezahlen. Das wird auf Dauer nicht gut gehen, wie alarmierende Vorzeichen am Horizont bereits ankündigen.
Je länger dieser Krieg dauert, desto größer wird der Scherbenhaufen, der irgendwann am Ende zusammenzukehren ist.
*Hans-Peter Kimmerle war Reserveoffizier der Bundeswehr und Bundesbeamter im höheren Dienst a.D.
Quelle: https://www.pi-news.net/2022/10/der-eins...gnoranten/
"Wenn Unrecht Gesetz wird,wird Rebellion Pflicht."
Der Klartexter
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