Virologe Hendrik Streeck
von Walter van Rossum
Zwei Pole markierten den Raum des öffentlich zum Virenausbruch Sagbaren in Deutschland: Professor Christian Drosten und Professor Hendrik Streeck. Der Erste agierte im Zentrum als gefährlichster und härtester Virenjäger aller Zeiten, der zweite erschien als eine Art noch gerade tragbarer randständiger Bedenkenträger. Drosten verströmte die Aura der Stärke, der man in Zeiten des Untergangs offenbar gerne zu folgen bereit war. Streeck misstraute in leisen Tönen den Gewissheiten des Chefvirologen und dem dramatischen Aktionismus, zu dem er aufrief. Beide haben nach der Schlacht ihre Sicht der Dinge in Büchern beschrieben.
„Ein überfälliges Gespräch zu einer Pandemie, die nicht die letzte gewesen sein wird“, heißt der Untertitel des Interview-Buchs von Drosten, in dem er auf die kaum kritischen Fragen von Georg Mascolo, einem der smartesten deutschen Journalisten, antwortet. In gebührendem Abstand einiger Wochen folgte nun Streecks Rückbesinnung: Nachbeben. Die Pandemie, ihre Folgen und was wir daraus lernen können.
Drosten findet in seinem Buch – von Mascolo sicher geleitet – zur alten Kraftmeierei zurück: Beim nächsten Mal bitte mehr von allem. Die WHO sollte zur globalen Kriseninstanz mit exekutiver Kompetenz ausgebaut werden, Impfstoffe müssten in wenigen Wochen zugelassen werden können, und es dürften sich nur ausgewählte Experten bei der anstehenden nächsten Seuche öffentlich äußern. Fehler hat er sich keine vorzuwerfen. Nicht seine Schuld, wenn die Politik ihm nicht immer gefolgt sei, die Medien ihn pausenlos falsch verstanden und gewisse Kollegen mit ihren „unbelegten“ Behauptungen die Menschheit gefährdet hätten.
Hendrik Streeck hingegen wiederholt in seinem Buch nicht seine damals eher sachte vorgetragenen Bedenken, er geht weit darüber hinaus. Leicht zugespitzt könnte man sagen, er nimmt das Pandemiemanagement und seine Begleitorganisten in weiten Teilen auseinander. Es gab einfach kein organisiertes Pandemiemanagement, diagnostiziert der Bonner Virologe. Im Laufe der Zeit wurde das Konzert der Stimmen von Politikern, Experten und Medien sogar immer kakophoner. Das Robert Koch-Institut (RKI) hätte die Aufgabe gehabt, solide Daten über die Verbreitung und Gefährlichkeit des Virus zu ermitteln sowie Krankheitsverläufe zu erfassen. Doch: „Das RKI hat die Coronapandemie verwaltet, anstatt sie aktiv zu kontrollieren. Es war reaktiv, nicht proaktiv.“ (S. 38) Es habe praktische Feldarbeit vor Ort unterlassen, wenn nicht gar behindert. Es habe weder dringend benötigte Forschung veranlasst, noch die in verschiedenen Disziplinen entstandenen Studien zusammengeführt. Die geleakten RKI-Protokolle belegten, dass das Institut nicht immer auf wissenschaftlicher Basis entschieden, sondern sich auch nach „Vorgaben des Ministeriums“ geäußert habe. „Die Weisungsgebundenheit erweist sich als Schwachstelle in der Krise und stärkt nicht das Vertrauen in die Wissenschaftlichkeit des RKI.“ (39)
„Wissenschaft ist keine autoritäre Belehrung weniger Experten, sondern ein offener Diskurs, in dem verschiedene Stimmen und Positionen gehört werden müssen.“ (52) So ein Sätzchen hätte man vor wenigen Jahren noch als Binse beschmunzelt. Heute mutet es wie ein kühnes Bekenntnis an. Kein Zweifel: Es gibt sie nicht, „die“ Wissenschaft. Und doch hat man uns ununterbrochen suggeriert, es gäbe sie, und sie hatte meist die Stimme von Professor Drosten. Streeck: „Wir hatten aber keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, und daher wurde mit Scheinargumenten versucht, die notwendige wissenschaftliche Debatte abzuwürgen.“ (44) Was man wiederum präzise am Beispiel Drosten nachweisen könnte. Doch das tut Streeck allenfalls in fein dosierten Seitenhieben.
Das Ganze wurde noch unerträglicher durch einen Wissenschaftsjournalismus, der sich anmaßte, unterschiedliche Expertisen zu bewerten, statt sie erst einmal vorzustellen. Ausgerechnet die Beiträge des öffentlich-rechtlichen Rundfunks haben in besonderer Weise zur Kommunikationsmisere beigetragen, findet Streeck. „Die Komplexität und Offenheit des wissenschaftlichen Diskurses wurde in der öffentlichen Kommunikation oft auf eine einzige, unumstößliche ‚Wahrheit‘ reduziert. Die tatsächliche Dynamik, bei der sich Wissen ständig entwickelt und verändert, ging in diesem vereinfachten Bild verloren.“ (140f)
Die Interventionen von Ethikrat und Leopoldina benotet Streeck besonders schlecht als wenig hilfreich, wenig fundiert und offenbar von der Politik angeleitet. Nämliches gelte für die sogenannten Maßnahmen. Wo kamen die ganzen Instrumente her? Bis zur Corona-Pandemie lagen nicht einmal Erfahrungswerte vor und schon gar keine wissenschaftlichen Daten, ob Lockdown & Co das bringen würden, was man von ihnen erwartete. Für die meisten Maßnahmen gab es keine wissenschaftliche Evidenz – und manche waren eher grotesk, vor allem die, die das Leben draußen betrafen, nächtliche Ausgangssperren mit oder ohne Hund, verbotene Aufenthalte auf Parkbänken, Masken im Wald. „Jedes andere Mittel ist besser“ kann man in den internen RKI-Protokollen lesen, die Streeck des Öfteren zitiert.
Eine Multiverse-Studie der Universitäten Stanford und Harvard hat fast 100.000 Corona-Maßnahmen weltweit unter die Lupe genommen. „Die Studie zeigt, dass der Nutzen der Maßnahmen nicht empirisch belegbar ist, da die Ergebnisse stark variieren und keinen klaren Effekt nachweisen.“ (91) Streeck zeigt an Dutzenden Beispielen, mit welchen Tricksereien man dann Wirkungen der Maßnahmen nachzuweisen versuchte. Nach dem Modell: Ausgangssperre und schon sinkt die Inzidenz. Allerdings sank die meist schon vorher.
Das tückisch trügerische Spiel mit Zahlen hat Streeck zufolge die ganze Pandemie beherrscht. Erstens hatte man kaum solide Daten, zweitens habe man sie zusammengeschraubt, wie es gerade passte. Die Übersterblichkeitsrechnung müsste komplexe Umstände ins Kalkül reinnehmen. Deshalb sei es zum Beispiel barer Unfug, die absoluten Zahlen eines Jahres einfach mit denen des Vorjahres zu vergleichen.
Man kann den Menschen wunderbar Angst einflößen, wenn man Tote kumulativ über Jahre zählt. Aber das verschafft keinen realistischen Eindruck von den Maßverhältnissen. Von den annähernd 3.000 Toten eines jeden Tages in Deutschland ist nur ein winziger Bruchteil „an oder im Zusammenhang mit Corona“ verstorben. Doch Angst – so Streeck – sei als Dauerkampfmittel bei Corona im Einsatz gewesen. Angst, mit der man den Gehorsam gegenüber weitgehend untauglichen Maßnahmen erzwingen wollte.
Eine Zahl hatte man gerne versteckt: den Median der Verstorbenen. Er lag bei 84 Jahren. Also war das Coronavirus ein Erreger, der vor allem Menschen in hohem Alter und mit etlichen Vorerkrankungen das Leben nahm. Die Alten und Schwachen seien eigentlich die hauptsächlich zu schützenden Gruppen gewesen. Doch den Schutz gerade dieser vulnerablen Gruppen habe man sträflich vernachlässigt. Das „zählt aus heutiger Sicht zu den größten Fehlern im Pandemiemanagement“. (209)
Ausführlich beschäftigt sich Streeck mit den verheerenden „Nebenwirkungen“ der Maßnahmen, mit den gravierenden sozialen, gesellschaftlichen, ökonomischen und psychischen Folgen. Wie im Tunnel habe man nur ein Ziel verfolgt und dabei nicht nur die Menschenwürde aus den Augen verloren.
So viel Kritik von einem, der dazugehörte, hat man bislang kaum vernommen. In dieser Deutlichkeit war sie allerdings während des Geschehens von ihm nie zu hören. Und auch nur einen Hauch von Selbstkritik wird man in seinem Buch nicht finden. Streeck hatte von Anfang an die Impfung zum rettenden Ausweg erklärt. Selbst wenn er ein paar Abstriche bei der Wirkung der mRNA-Impfung machen musste – als hätte man als erfahrener Virologe nicht längst wissen müssen, dass diese Impfung weder Infektionen noch Infektiosität verhindert –, das Konzept und die Bauart dieser neuen Impftechnologie verteidigt er vehement. Sämtliche Studien bescheinigten, dass die Impfung einen schweren Verlauf verhindert hätten – wenigstens bei den Älteren. Fragt sich bloß, auf welchen Daten diese Studien beruhen. Schließlich hatten RKI und Paul-Ehrlich-Institut (PEI) es im loyalen Verbund nicht geschafft, valide Daten über den Impfstatus zu erheben. In manchen Regionen blieb der Impfstatus von bis zu 90 Prozent der Menschen „unbekannt“.
Und ja, sehr seltene Nebenwirkungen habe es nach den Impfungen schon gegeben, die lägen aber im Normbereich oder gar darunter. „In Deutschland wurden 65 Millionen Menschen geimpft und fast 180 Millionen Impfdosen ausgegeben. Ein Impfschaden wurde bisher bei 467 Personen anerkannt.“ (242) Das ist schon verdammt starker Tobak, Impfschäden nach der Zahl anerkannter Fälle zu beurteilen. Die Nebenwirkungshäufigkeit auf den Beipackzettel wird auch nicht nach behördlich „anerkannten“ Fällen gemessen. Das Paul-Ehrlich-Institut meldete in seinem letzten Sicherheitsbericht mit Sachstand vom 31. März 2023 1,77 Verdachtsfallmeldungen zu möglichen Impfnebenwirkungen auf 1.000 Impfungen. Wobei von einer sehr hohen Dunkelziffer nicht gemeldeter Fälle auszugehen ist. Die European Medicines Agency (EMA) – die EU-Sammelstelle für Meldungen von Impfnebenwirkungen – registrierte bereits 2022 über 25.000 Fälle von möglichen Todesfällen infolge der Impfung. Das sind vieldutzendfach höhere Meldungen als es je zuvor gegeben hat. Gerade auch in den Altersgruppen, die von schweren Verläufen, geschweige denn Todesfällen, so gut wie gar nicht betroffen waren. Doch die STIKO habe ihre Arbeit im Großen und Ganzen gut gemacht, befindet Streeck. Leider erklärt er nicht warum. Sein Ehemann Paul Zubeil ist derweil als Unterabteilungsleiter für Europäische und internationale Gesundheitspolitik im Bundesgesundheitsministerium beschäftigt.
Erstaunlicherweise scheint seine eigene lange und deutliche Mängelliste Hendrik Streeck nicht zu tiefergehenden Zweifeln animiert zu haben. Sollen das wirklich alles bloß Fehler, Irrtümer, Missverständnisse gewesen sein, sozusagen im Eifer des Gefechts unterlaufen, aber nicht böse gemeint? Mal ganz abgesehen davon, dass diese „Fehler“ eine Art globale Signatur aufweisen. Sie lassen sich nicht aus den hiesigen Umständen allein ableiten. Alles deutet auf eine globale Regie hin. Nähme man Streecks Kritik etwa am Umgang mit Daten und deren Interpretation beim Wort, müsste man sich eigentlich glatt fragen: War das überhaupt eine Pandemie? Der Median der „an oder im Zusammenhang mit“ COVID-19 Verstorbenen lag wie gesagt bei 84 Jahren. Jedenfalls gab es noch nie eine Pandemie, die hauptsächlich sehr alte Menschen – im Median zwei Jahre älter als die mittlere Lebenserwartung – dahinrafft. Das sollte einem ordentlichen Professor der Virologie schon zu denken geben.
Angeblich geht es Streeck nur darum, bei zukünftigen Pandemien die zuletzt gemachten Fehler zu vermeiden. Doch welche Lehren lassen sich aus den aneinandergereihten Irrtümern ziehen? Wie will man den medialen Amok in Zukunft unterbinden? Wie den Kollaps des Rechtsstaates verhindern, den Streeck allenfalls am Rande erwähnt? Wie Politiker stoppen, die die Menschwürde mit Füßen treten und aus dem Nichts soufflierte Maßnahmen quasi totalitär umsetzen? Das demokratische Ideal der Gewaltenteilung wurde im Handumdrehen der Exekutive geopfert. Jeder Zweifel untersagt oder sogar geahndet. Weite Teile der Wissenschaft streiften alles Wissen ab und stellten sich in den Dienst illegaler Imperative. Alles, was Streeck kritisiert, hatte der breite Konsens vorpandemischer Zeiten längst verworfen und ausgeschlossen. Das Meiste war gar in Stein gemeißelt und wurde dann doch binnen Tagen kurzerhand beiseite geräumt.
Hendrik Streeck fordert dringend eine Aufarbeitung. Und er liefert ein Modell von Aufarbeitung, von dem wir in Zukunft noch öfter hören werden: Ja, es wurden Fehler gemacht, die sollten wir nicht wiederholen. Keiner war richtig schuld. Alle waren vollkommen überrascht. Und im Tumult ging der Überblick verloren. Aus informierten Kreisen hört man, dass Hendrik Streeck als Gesundheitsminister einer kommenden CDU-Regierung gehandelt wird. Sein Buch könnte man als Bewerbung lesen. Hendrik Streeck, Nachbeben. Die Pandemie, ihre Folgen uns was wir daraus lernen können. Piper, 316 Seiten, 22 Euro.
Quelle: https://www.anonymousnews.org/meinung/kritik-von-einem-der-dazugehoerte/
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