16.05.2025, 19:28
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 16.05.2025, 19:37 von Klartexter.)
Atomarer „Schutzschirm“? – Die brutale Ignoranz der nuklearen Kriegstreiber
7. April 2025 -
![[Bild: Atompilz.jpg]](https://overton-magazin.de/wp-content/uploads/2025/03/Atompilz.jpg)
, Public domain, via Wikimedia Commons
Aufrüstungsgeschrei: Wir brauchen Massenvernichtungsmittel, der Russe steht vor der Tür! In panischer Angst wird mit dem Inferno gedroht. Verlässt uns Gott Vater dort drüben in Washington, hauen wir selbst auf die Pauke. Europa erneut vor der Illusion, Abschreckung schaffe Sicherheit.
Hier kurzgefasst die wichtigsten Einwände:
Der Glaube an den atomaren „Schutzschirm“ ist ein haltloses Konzept. Es fehlen die empirischen Grundlagen, um zu beweisen, dass es verlässlich ist. Während des Kalten Kriegs stand Abschreckung mehrfach vor dem Zusammenbruch. Während der Kubakrise 1962 oder 1983, als ein russischer Offizier den Atomkrieg gerade noch verhindern konnte. Es gab noch weitere Fast-Atomkriege. Dagegen basieren Aussagen über die Schutzwirkung von Atomwaffen auf wackeligen Füßen. Es handelt sich um ausgedachte Hypothesen, die unüberprüfbar sind. Es gibt Leute, die an sie glauben und Leute, die sie bestreiten.
Ganz ähnlich sieht es etwa der Atomwaffenexperte der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, Peter Rudolf, einer der wenigen ausgesprochenen Spezialisten der atomaren Abschreckung in Deutschland: „Bei der nuklearen Abschreckung handelt es sich um ein Konstrukt, ein System von nicht verifizierbaren Annahmen, das geradezu ideologischen Charakter hat. Abschreckungspolitik beruht auf Axiomen, für die es keine empirische Evidenz im wissenschaftlichen Sinne gibt, sondern allenfalls anekdotische Evidenz, deren Interpretation also glaubensgeleitet ist. Der Glaube an die nukleare Abschreckung ist ebendies – ein Glaube.“
Sollen wir unser Überleben von unüberprüfbaren Hypothesen oder gar einem Glauben abhängig machen? Brauchen wir nicht mehr Gewissheit, wenn es um Leben und Tod geht?
Geht etwas schief, vollzieht sich die historisch größte jemals erlebte Katastrophe
Zahlreiche wissenschaftlich Studien machen es hoch wahrscheinlich: Selbst ein kleiner und begrenzter Atomkrieg wird die Zivilisation rund um den Globus zerstören. Das liegt vor allem am „nuklearen Winter“, der monatelangen Verdunkelung der Atmosphäre. Die dadurch erzeugte Abkühlung wird Ernten vernichten und zu katastrophalen Hungersnöten führen. Anschließend brauchen wir auch keinen Klimaschutz mehr, da das Weltklima zerstört wäre.
Weshalb wird die atomare Abschreckung auch von den Grünen vertreten? Was ist das für ein „Schutzschirm“, der die Zerstörung unserer Lebensbedingungen und der Ökosphäre in Kauf nimmt?
Wer möchte so „geschützt“ werden, wenn der „Schutz“ zugleich die Möglichkeit des weltweiten Massensterbens einschließt?
Der Journalist Leon Wieseltier hatte recht, als er formulierte: Nukleare Abschreckung sei „wahrscheinlich das einzige politische Konzept, das total versagt, wenn es nur zu 99,9 Prozent erfolgreich ist.“ Einen totalen Erfolg, also zu hundert Prozent, kann niemand nirgendwo garantieren. Aber ohne den totalen Erfolg der Abschreckung können wir unser Testament machen.
Im Hinblick auf Atomwaffen sollten Warnungen stärker gewichtet werden als optimistische Hoffnungen
Dieses Argument stammt von dem prominenten Philosophen Hans Jonas. Er bezog es auf Umweltfragen. Wenn wir nicht sicher wissen, ob sich eher die positive Voraussage (Atomwaffen bieten einen sicheren Schutzschirm) oder die negative bewahrheiten wird (Abschreckung mit Atomwaffen wird eines Tages kollabieren) , gilt das Prinzip Vorsicht. Dann sollte der schlechten Prognose vor der guten der Vorzug gegeben werden
Denn die unterschiedliche Sichtweise ist auch Ausdruck der Tatsache, dass wir die Wahrheit nicht kennen. Also letztlich nicht völlig sicher wissen, wo die zutreffende Einschätzung liegt. Steht eine Schulklasse bei einer Wanderung vor einer Brücke, die nicht unbedingt einen vollkommen sicheren Eindruck macht, so entscheidet der verantwortungsbewusste Lehrer, diese Brücke besser nicht zu überqueren. Und das auch dann, wenn er selbst die Brücke für eher stabil halten sollte. Bereits diese Erwägung ist ein gewichtiges Argument gegen Atomwaffen. Die Brücke über den Abgrund der atomaren Vernichtung ist eine wackelige Brücke. Wir sollten besser nicht ausprobieren, ob sie hält. Schon gar nicht auf Dauer.
Atomare Abschreckung ist seinem Wesen nach Risikoverhalten
Abschreckung ist ein psychologisches Konzept. Es soll Angst machen. Man droht dem Gegner unkalkulierbare Schäden an, sofern er sich nicht so verhält wie erwartet. Die Frage ist allerdings, ob der Gegner wirklich Angst bekommt und die Drohung für ernsthaft hält. Denn die Keule, mit der gedroht wird, ist ungeheuerlich. Ist der Drohende – so fragt sich der Bedrohte – auch tatsächlich bereit, zuzuschlagen? Bereit zur Zerstörung der globalen Zivilisation oder gar zur Ausrottung der ganzen Menschheit?
Daher muss jede Abschreckungsdrohung auch „glaubwürdig“ sein. Leere Drohungen sind nichts wert. Wer ohne zu handeln immer nur droht, kann seine Nuklearwaffen gleich verschrotten. Dass Abschreckung auf „Glaubwürdigkeit“ beruht, wurde im Ukrainekrieg sträflich ignoriert. Putin drohe nur, hieß es. Niemals würde er seine Atomwaffen nutzen. Das war lesen im Kaffeesatz. Bislang hatten wir Glück, aber wer weiß…
Ganz anders also, als viele denken, ist atomare Abschreckung nicht darauf ausgelegt, dass es niemals zum Atomkrieg kommt. Umgekehrt: Die Bereitschaft, ihn zu führen, macht Abschreckung so lange wirksam, bis sie eben kollabiert. Mit dem Finger am Abzug steht man sich in Wild-West-Manier gegenüber. Jederzeit zu allem bereit – und um es deutlich zu sagen: auch zum Massen- und Völkermord.
Dementsprechend gilt etwa in den USA das Hair Trigger Alert – Verfahren. Eine Vorgehensweise, die auch „promt launch“ oder „launch on warning“ genannt wird. Sie bedeutet, dass ein Großteil der strategischen Raketen mit Atomsprengköpfen, auch auf U-Booten, in ständiger Startbereitschaft gehalten werden und innerhalb von Minuten zum Einsatz kommen können. Das möglichst noch, bevor eventuelle feindliche Raketen das eigene Gebiet erreicht haben. Man kann von einem Automatismus sprechen, bei dem das Inferno angezählt ist. Und das ohne wirkliche menschliche Beteiligung. Ein ist wahrscheinlich.
Der „Atomschirm“ ist technisch unbeherrschbar
Wie uns die Informatiker und KI-Spezialisten versichern: Es existiert keine sichere Möglichkeit, frühzeitig vor atomaren Angriffen zu warnen. Dazu sind die Fluggeschwindigkeiten moderner Raketen zu hoch. Sind Raketen etwa in Polen stationiert und gegenüber in Weißrussland, sind Abschuss und Einschlag fast schon identisch. Polen fordert eine solche Stationierung, versteht also nicht, in welche Gefahr es sich damit begibt. Und wer möchte wirklich, dass die Entscheidung über Leben und Tod an künstliche Intelligenz gekoppelt wird? Wenn er weiß, dass auch , ob feindliche Raketen im Anflug sind? Allenfalls wäre denkbar, dass niemals „zurückgeschossen“ wird. Aber dann stünde atomare Abschreckung nur noch auf dem Papier.
Vor allem im Ernstfall, im Krieg, ist der „Atomschirm“ völlig unkontrollierbar. Kontrollierbarkeit, etwa eines Kernkraftwerks, resultiert aus komplexer Kooperation. Viele wirken zusammen und halten sich an Regeln, damit nichts passiert. Atomare Abschreckung dagegen steht in einem Zusammenhang, in welchem gerade nicht kooperiert wird. Die Gegner sind bemüht, das atomare System des jeweils anderen zum Einsturz zu bringen. Etwa durch . Wird Kommunikation bereits in Friedenszeiten erfolgreich gestört oder zerstört, wird das in Kriegszeiten die Regel sein.
Im Kriegsfall ist die Eskalation das Problem. Ein Atomkrieg könnte „klein“ anfangen und sich bis zur Weltvernichtung steigern. Niemand hat das in der Hand, keiner kann es kontrollieren. Wie kommt es, dass solche Themen so gut wie nie diskutiert werden? Dass fast alle atomare Abschreckung mit „Sicherheit“ assoziieren?
Statistisch gesehen ist die Katastrophe unvermeidbar
Alle beruhigen sich, dass ein Atomkrieg niemals stattfinden wird. Doch das ist Augenwischerei.
Volkstümlich sagte es der Mathematiker, Philosoph und Nobelpreisträger Bertrand Russell so:
„Was die nukleare Konfrontation angeht, so kann man unter Umständen annehmen, dass zwei Seiltänzer zehn Minuten balancieren können, ohne abzustürzen. Aber nicht zweihundert Jahre.“
Weniger volkstümlich der ehemalige Direktor der kardiologischen Abteilung der Harvard School of Public Health Bernhard Lown, der Mitbegründer der Internationalen Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW): „Man hat uns durch Experten versichern lassen, der Atomkrieg werde nie stattfinden. Aber die elementaren Gesetze der Wahrscheinlichkeit lehren uns, dass selbst ein so geringfügiges jährliches Risiko von nur 1 % zu einer Wahrscheinlichkeit von 40 % kumuliert, wenn man es für die zu erwartende Lebenszeit der heutigen Jugend hochrechnet. Es ist eine statistische Gewissheit, dass eine ständige Schussbereitschaft nicht als Dauerzustand fortbestehen kann. (…) Bislang ist der Welt die Katastrophe erspart geblieben, aber unser Glück ist zerbrechlich. Der Atomkrieg ist ein Schicksal, das darauf wartet, sich zu ereignen.“
Zurzeit werden die Krankenhäuser auf den totalen Krieg eingestimmt. Glaubt jemand ernsthaft, sie würden im Atomkrieg funktionsfähig sein? Die Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs betonen immer wieder: Wir werden euch nicht helfen können!
Europa und Deutschland können atomar nicht verteidigt werden
Das folgt schon aus der Tatsache, dass die atomare „Verteidigung“ Europas den nuklearen Winter auslösen würde. Sollten wir noch einen Sinn für Humanität haben, könnten wir wenigstens die Inder oder Chinesen fragen, ob sie, wenn sich Europa „verteidigt“, ebenfalls Opfer werden wollen.
Deutschland hat besonders geringe Chance, erfolgreich „verteidigt“ zu werden. Seine europäische Mittellage bestimmt es zum Drehkreuz, Aufmarschgebiet und Schlachtfeld eines Krieges mit Russland. Schon mit „konventionellen“ Waffen „verteidigt“, würde in Deutschland kein Stein mehr auf dem anderen stehen bleiben. Bei Einsatz von Atomwaffen gibt es für fast alle Deutschen keine Chance auf Überleben. Fair wäre es, unsere Regierung würde uns das mitteilen. Es scheint aber so zu sein, dass sie es selbst nicht weiß.
So stellte etwa der ehemalige US-Verteidigungsminister Robert McNamara in den 1970-Jahren folgendes fest: „Worüber sich die Westdeutschen klarwerden müssen, das ist, dass ihr Kulturkreis völlig verwüstet werden wird, wenn sie sich weiter an die NATO-Strategie halten.“ Er wisse von keinem einzigen Plan für eine solche Verteidigung, „der nicht die hohe Wahrscheinlichkeit von Selbstmord in sich schließt, und das heißt: eine hohe Wahrscheinlichkeit, in einen unbegrenzten Atomkrieg zu geraten, der die westliche Zivilisation zerstören muss.“ Schon bei geringen internationalen Zwischenfällen könne es leicht zu einer militärischen Automatik kommen, die in einer Welt voller Atomwaffen zu unabsehbaren Folgen führen müsse.
Dieser Ansicht war auch der ehemalige Inspekteur der Luftwaffe und Vorsitzender des NATO-Militärausschusses General Johannes Steinhoff oder etwa der frühere Chef der Nationalen Sicherheitsbehörde der USA, Admiral Noel Gayler. Nein, man könne Europa mit Atomwaffen nicht verteidigen.
Was uns retten könnte: Gemeinsame Sicherheit
Doch wir brauchen uns diesem Schicksal nicht auszuliefern. Allerdings müssten wir über unseren Schatten springen und die Bevölkerung müsste wach werden. Denn ein fester Glaube lautet, Sicherheit werde durch das Drohen mit Waffen erzeugt. Ein schlimmer Irrtum.
Denn im Atomzeitalter ist das Gegenteil richtig. Zumindest für Atomwaffen gilt: Je „glaubhafter“ wir gegen den Feind rüsten und uns in Stellung bringen, desto mehr gefährden wir unser Leben. Sicherheit resultiert nicht aus dem Gegeneinander, sondern aus dem Miteinander. Sie erwächst aus Diplomatie, vertrauensbildenden Maßnahmen und Abrüstungsverhandlungen.
Das schließt nicht aus, dass eine starke Armee vorübergehend (!) nützlich sein kann. Strukturell sollte sie aber nur auf Verteidigung ausgerichtet, also ausschließlich defensiv orientiert sein. Auch das ein vergessenes Konzept. Der Gegner muss wissen: Wir wollen uns nur wehren und niemals angreifen.
Was sollen da Atomwaffen, die nur für Angriffe taugen? Jeder Atomkrieg endet in der gemeinsamen Niederlage. Die Begriffe „Sieg“ und „Niederlage“ haben ihren Sinn verloren.
Vom ehemaligen US-Außenminister unter Präsident Carter, Cyrus Vance, stammt ein passender Vergleich: „Die heutigen Nationen lassen sich mit einer Seilschaft im Gebirge vergleichen: Sie können entweder gemeinsam den Gipfel erklimmen oder gemeinsam abstürzen. Diese neue politische Lage fordert, dass wir einen simplen Grundsatz akzeptieren: Sicherheit ist unteilbar – entweder gleiche Sicherheit für alle oder gar keine Sicherheit.“
Am einmal Erreichten wieder anknüpfen!
Wie fast alles, was mit der Problematik von Atomwaffen zusammenhängt, ist auch das Konzept der Gemeinsamen Sicherheit vergessen worden. Auch innerhalb der SPD, obwohl es vom SPD-Bundeskanzler Willy Brandt und seinem Sicherheitsberater Egon Bahr umgesetzt wurde. In der Charta von Paris wurde es 1990 auf höchster Ebene als Programm für Europa formuliert: „Die Sicherheit eines jeden ist untrennbar mit der Sicherheit aller anderen verbunden“, heißt es dort. Weshalb nicht erneut von dieser Wahrheit ausgehen?
Stattdessen macht man „Sicherheitspolitik“ im Stil des 19. Jahrhunderts. Und obwohl nach dem Deutschen Grundgesetz alle Staatsgewalt „vom Volke“ ausgeht (Art. 20), wird niemand gefragt, ob er bereit ist, die Konsequenzen zu tragen. Die politische Klasse entscheidet über unser Köpfe hinweg. Auch das ein triftiger Grund, weshalb bei uns „Demokratie“ eher ein Traum als eine Realität ist.
Quelle:
"Wenn Unrecht Gesetz wird,wird Rebellion Pflicht."
Der Klartexter
Der Klartexter